Dürrenmatt, „Besuch der alten Dame“ – Bedeutung der Balkonszene

Das Besondere an der „Balkonszene“

  • In Dürrenmatts Stück „Der Besuch der alten Dame“ gibt es zu Beginn des zweiten Aktes ein sehr interessantes Phänomen, nämlich ein Spiel auf mehreren Ebenen, bei dem ein Balkon eine besondere Rolle spielt.
  • Zunächst muss man sich die Situation im Drama klarmachen. Am Ende des ersten Aktes hat die Milliardärin die Katze aus dem Sack gelassen und deutlich gemacht, dass ihre Bereitschaft zu einer großen Spende mit einer Erwartung beziehungsweise einer Bedingung verbunden ist: „1 Milliarde für Güllen, wenn jemand Alfred Ill tötet.“ (49).
  • Die Reaktion der Vertreter der Stadt ist so wie man sie als anständiger Mensch und Demokrat erwarten muss, nämlich Entsetzen, Empörung und Ablehnung.
  • Den Schlusspunkt setzt allerdings wieder die Milliardärin mit der knappen Bemerkung: „Ich warte.“ (50).
  • Auch wenn man zu dem Zeitpunkt als Leser oder Zuschauer noch nicht wissen sollte, wie das Ganze ausgeht, hat man wahrscheinlich schon eine Ahnung, dass es da Entwicklungen geben wird, bei denen auch menschlicher Egoismus bis hin zur Niedertracht eine Rolle spielen.

Entwicklung des dramatischen Konflikts zu Beginn des II. Aktes

  • Der zweite Akt beginnt dann auch mit einer gezielten Terrormaßnahme, nämlich der Demonstration eines Sarges, was Ill nicht nur wahrnimmt, sondern was ihn sicherlich auch innerlich beunruhigen wird, auch wenn er erst einmal erklärt: „Das Städtchen steht zu mir.“ (51).
  • Wie fragwürdig diese Einschätzung ist, zeigt sich dann gleich in der Familie. Man hat den Eindruck, alle setzen sich von dem bedrohten Ehemann beziehungsweise Vater ab und gehen eigenen Interessen nach.
  • Im folgenden beginnt dann die Doppelbödigkeit, weil auf der einen Seite die Milliardärin sich präsentiert, auf der anderen Seite deutlich wird, wie die Bürger anfangen, auf Ills Kosten Schulden zu machen (53).
  • Auf Seite 54 gibt es dann vom Balkon aus schon einen ersten deutlichen Hinweis, in welche Richtung die Milliardärin agiert. Im Hinblick auf einen ihrer früheren Ehemänner stellt sie bewundernd fest: „War ein großer Lehr- und Tanzmeister, bewandert in sämtlichen Teufeleien, habe ihm alle abgeguckt.“ (54)
  • Im weiteren Verlauf treten dann andere Kunden auf, die sich genau so selbstsüchtig verhalten, während die Milliardärin mit Erinnerungen an ihre früheren Liebhaber beschäftigt ist. Dabei hat man den Eindruck von Distanz und Verachtung. Deutlich wird auch, mit welcher Selbstverständlichkeit die Milliardären diese Menschen aus ihrem Leben entfernt, wenn sie ihr nichts mehr zu bieten haben.
  • Interessant ist dann eine Bemerkung von Ill auf Seite 56, in der er seine Schuld durchaus anerkennt, sie aber herunterspielt und sich im übrigen über die angebliche Solidarität seiner Mitbürger freut.
  • Auf Seite 57 leistet sich Dürrenmatt den Scherz, in die Frage, ob Ill wirklich Bürgermeister werden wird, das Wort „todsicher“ einzubauen, was eine eindeutige Vorausdeutung ist.
  • Den Höhe- und Schlusspunkt der Balkonszene stellt die Präsentation der gelben Schuhe dar, die zum Symbol für den moralischen Niedergang der Bürgerschaft des Städtchens darstellen.

Die Schluss-Situation in der Balkonszene

  • Auf Seite 60 kann Ill den Hoffnung-Schutzmantel, in den er sich gehüllt hat, nicht mehr aufrechterhalten. Er stellt endlich die Frage: „Womit wollt ihr zahlen? Womit wollt ihr zahlen? Womit? Womit?“ (60)
  • Die Milliardärin kommentiert dann den Lärm, den Ills Ausraster gegenüber seinen sogenannten Kunden macht, höhnisch mit dem Satz: „Man wird sich um den Fleischpreis streiten.“ (60) Schrecklicher kann man nicht veranschaulichen, was in der Stadt abgeht. Der Mitbürger Ill ist nur noch ein Stück Fleisch, um das man sich streitet. Dabei ist der Preis weniger im Geld zu sehen als in der Moral, mit der man sein neues Wohlstandsglück zu bezahlen bereit ist.
  • Anschließend taucht dann bereits der schwarze Panther auf als Fleisch gewordenes Symbol der Bedrohung für Ill.
  • Bis Seite 67 muss Eltern beim Polizisten die Erfahrung machen, dass der seine Sorgen als „Hirngespinste“ abtut (66) und ansonsten sich ebenfalls diese neuen Schuhe gekauft hat. Parallel dazu tut die Milliardären das, was sie angekündigt hat, sie wartet und macht nebenbei deutlich, wie sie mit den Männern umgegangen ist und umgeht, die ihren Ansprüchen nicht genügen.
  • Als Leser beziehungsweise Zuschauer muss man sich hier zwangsläufig die Frage stellen, wie diese Milliardärin dann wohl gefühlsmäßig und in der Sache mit einem Liebhaber umgeht, der nicht nur ihren Ansprüchen nicht genügt hat, sondern sie regelrecht verraten und in die Armut gestoßen hat. Es sieht nicht gut aus für Alfred Ill – sowohl bei der Milliardärin als auch bei seinen Mitbürgern.

Auswertung der Balkonszene

Die Szene zeigt:
  1. auf dem Balkon eine Atmosphäre absoluter Überlegenheit und Distanz zu anderen Menschen, auf der Ebene von Ill scheinbare Selbstsicherheit, die angesichts des realen Verhaltens der Mitbürger immer mehr ins Wanken gerät und schließlich zu Verzweiflung wird.
  2. Die Menschen auf dem Balkon zeigen eine völlig egoistische und genusssüchtige Lebensweise und ein Menschenbild, das andere nur als Spielmaterial ansieht. Die Milliardärin verfügt aber auch über eine große Menschenkenntnis, während Ill sich lange etwas vormacht.
  3. Was das Verhältnis der beiden Welten angeht, so sind sie real getrennt, aber die Oberwelt betrachtet genau, was unten abläuft, und kommentiert es durchaus auf maximal zynische Art.