Morgenstern, Christian, „Berlin“

Im Folgenden zeigen wir einfach mal, wie sich beim Lesen dieses Gedichtes ein Verständnis aufbaut, das immer besser und sicherer wird.

Die Herausarbeitung der Aussagen des Gedichtes

Christian Morgenstern

Berlin

Anm:
Wichtig ist immer, vom Titel auszugehen, der sendet erste Signale – auch wenn die später ihre Richtung ändern.
Es geht um die Hauptstadt Deutschlands, ohne nähere Andeutung einer Zielrichtung.

01 Ich liebe dich bei Nebel und bei Nacht,
02 wenn deine Linien ineinander schwimmen, –

Anm:
Das Lyrische Ich beginnt mit einer Liebeserklärung, die sich auf eine bestimmte Situation bezieht, die nicht von allen Menschen in der Kombination gleich als positiv angesehen wird.
Es gibt aber eine Andeutung, warum gerade das geliebt wird, weil dabei die harten Konturen des Tages eben „ineinander schwimmen“, weniger eindeutig sind.
Wer sich in der Epoche der Romantik ausgeht, könnte meinen, dass hier ein entsprechendes Kennzeichen vorliegt, auch wenn der Verfasser viele Jahrzehnte später gelebt und geschrieben hat.

03 zumal bei Nacht, wenn deine Fenster glimmen
04 und Menschheit dein Gestein lebendig macht.

Anm:
Die positiv empfundene Atmosphäre wird hier noch weiter konkretisiert: Es geht – typisch für eine Großstadt – eben nicht um eine Mondnacht am Waldesrand, sondern um das typische Abendleben. Die Lichter gehen an und das Lyrische Ich empfindet das als menschlich und lebendig in all der steinernden Umgebung.

05 Was wüst am Tag, wird rätselvoll im Dunkel;
06 wie Seelenburgen stehn sie mystisch da,
07 die Häuserreihn, mit ihrem Lichtgefunkel;
08 und Einheit ahnt, wer sonst nur Vielheit sah.

Anm:
Der Eindruck verstärkt sich, dass hier abends die Atmosphäre positiver wird, weil das, was den Tag so stressig macht, hier nicht nur verschwindet, sondern rätselhaft wird, wie es immer war, wenn in Urzeiten die Menschen abends ums Feuer saßen und über Gott und die Welt nachdachten.
Wichtig ist dem Lyrischen Ich auch, dass jetzt wirklich wieder „Menschheit“ zu sehen ist – und zwar als eine „Einheit“, während über Tag jeder seinen Geschäften nachgegangen ist und die Menschen eher nebeneinander herliefen.

09 Der letzte Glanz erlischt in blinden Scheiben;
10 in seine Schachteln liegt ein Spiel geräumt;
11 gebändigt ruht ein ungestümes Treiben,
12 und heilig wird, was so voll Schicksal träumt.

Anm:
Die letzte Strophe wendet sich dann der nächsten Zeitphase zu, wenn auch das Abendleben langsam erlischt. Was am Abend noch gespielt wurde zwischen den Menschen in ihrer Freiheit, ist wieder weggeräumt.
Die letzten beiden Zeilen fassen dann das Entscheidende zusammen: Das Leben über Tag in ein „ungestümes Treiben“, in der Nacht ist es aber „gebändigt“ durch die Umstände, sonst wäre es wohl nicht zur Ruhe gekommen.
Und dieser Zustand hat noch einen zweiten Vorteil nach Meinung des Lyrischen Ichs: Das Leben, die Welt wird wieder „heilig“, kehrt also in einen Urzustand zurück, der über die sichtbare Wirklichkeit hinausgeht. Dementsprechend spricht man auch von Transzendenz. Vor diesem Hintergrund verwandelt sich alles, was wir über Tag als Schicksal empfinden und wie in einem Traum erleben.

Die Formulierung der Aussagen

Das Gedicht zeigt:

  1. das besondere, positive Verhältnis, das das Lyrische Ich zu den Zeiten in der Großstadt hat, wenn die festen Konturen des Tages sich verlieren „bei Nebel und bei Nacht“
  2. die Vorstellung, dass erst am Abend sich wieder so etwas wie „Menschheit“ bildet, also ein Miteinander der Menschen, die über Tag durch alle möglichen Geschäfte und Tätigkeiten getrennt sind.
  3. die Verbindung des Abends mit dem Wiedererscheinen all des Rätselhaften, was auch zum Leben gehört
  4. eine ganz andere Sicht der Häuser als „Seelenburgen“, die auch Mystisches enthalten – und nicht nur Rationales.
  5. eine Vorstellung von der Nacht, die zusammen mit dem Dunkel auch mit einer großen Ruhe verbunden ist, die als Bändigung all dessen verstanden wird, was den Tag „wüst“ macht
  6. die Verbindung dieser Ruhe mit dem, was Menschen zu allen Zeiten als überirdisch, heilig verstanden haben.

Sinnpotenzial des Gedichtes

Das Gedicht verbindet die moderne Großstadt, etwas, was Romantiker eher abgelehnt hätten, mit deren Vorstellung von den positiven Seiten der Dämmerung, der Ruhe, in der das Rätselhafte der menschlichen Existenz wieder hervorkommt und die entsprechenden Schicksale in einem überirdischen Zusammenhang gesehen werden.

Anders als die Romantiker betont dieses Gedicht aber weniger den Einzelnen in seiner Verbindung zur Natur und ggf. auch zum Himmel, sondern die „Menschheit“, die Wiederkehr der „Einheit“. Diese Sicht der Gesellschaft entspricht natürlich den Bedingungen der Industrialisierung und der Verstädterung und stellt höchstwahrscheinlich eine positive Utopie dar.

Schreiber, Mathias, „Fließband“

Im Folgenden zeigen wir am Beispiel des Gedichtes „Fließband“ von Mathias Schreiber, wie man ein Gedicht fortlaufend versteht und am Ende seine Aussage(n) bestimmen kann.

  1. Das Gedicht beginnt mit einer Situationsbeschreibung. Beim Leser entsteht sofort das Bild eines Arbeiters, der mit vielen anderen zusammen in einer Fabrikhalle steht und immer nur die gleiche, eintönige Sache machen muss.
  2. Die nächsten viereinhalb Zeilen beschreiben dann ein zweites Problem eines solchen Arbeitslebens.
    Der Mensch am Fließband weiß überhaupt nicht, was aus den Dingen wird, an denen er gearbeitet hat. Das innere Gefühl, das dabei auftaucht, wird sehr gut an der umgangssprachlichen Wendung
    „weiß der Teufel“
    deutlich.
    Dann kommt noch eine Konkretisierung, die insofern besonders raffiniert ist, weil sie die Schrauben einmal in der Fantasie mit einem normalen Haushaltsgerät verbindet, zum anderen mit einem Folterinstrument.
  3. Auch sehr gut gemacht ist dann der fließende Übergang von den Daumenschrauben zu den nicht vorhandenen Pausen.
    Das passt nämlich sehr gut zu der Situation am Fließband, wo es eben auch weder eine Pause zur Erholung noch eine Pause als Unterbrechung gibt.
  4. Die Anmerkung zu den Fingern macht deutlich, welche Nervosität beziehungsweise Angespanntheit am Fließband herrscht. Dazu gibt es ja den berühmten Film „Modern Times“ mit Charlie Chaplin, wo das auf satirische Weise gezeigt wird.
    https://www.youtube.com/watch?v=6n9ESFJTnHs
  5. Etwas seltsam sind dann die beiden Wörter
    „und Leere“,
    die sollen vielleicht deutlich machen, dass hier zwar etwas getan wird, aber man kennt eben den Zusammenhang nicht, man arbeitet also gewissermaßen ins Leere hinein.
  6. Am Ende dieses Abschnitts gibt es dann noch eine Kritik am modernen Arbeitsleben, die eben das Natürlichste von der Welt, nämlich die Zeit, aus diesem natürlichen Zusammenhang herausreißt und eben zu Bestandteilen der Lohnabrechnung macht.
  7. Die zweite Strophe beginnt wie die erste und beschreibt dann kurz eine zweite Arbeitsvariante, die dann genutzt wird für die metaphorische Beschreibung der Enttäuschung, was gut zu der Leere weiter oben passt.
  8. Typisch auch für die Arbeit am Fließband wird dann diese gleiche Sache noch mal wiederholt, auch hier taucht die Frage nach der Funktion und dem Sinn der Tätigkeit auf.
    Am Ende mach das Lyrische Ich deutlich, dass es eben mehr ist als ein Arbeiter am Fließband, eben ein fühlender Mensch, der mit seinen Gefühlen nirgendwo anders hin kann als in das Werkstück hinein.
  9. Es folgt dann eine weitere Kritik an der Situation, die deutlich macht, dass eine solche Arbeit am Fließband einem das Leben wegnimmt beziehungsweise das, was zum Leben wirklich nötig ist, nämlich das freie Atmen.
  10. Der Schluss deutet dann eine sehr sarkastische Perspektive an.
    Das lyrische ich stellt sich vor, dass es erstens auf dem Fließband mitgezogen wird, also selbst zu einem Werkstück wird.
    Dann geht das noch weiter, das Lyrische Ich fühlt sich dabei ausgezogen, d.h. seiner Kleidung und seine Schutzes beraubt.
    Am Ende steht eine Art Auflösung, die sprachlich dadurch unterstrichen wird, dass der letzte Satz ziemlich unvollständig klingt. Das entspricht aber eben auch dieser offenen Situation ohne irgendeinen positiven Ausblick.

 

Aussage(n) des Gedichtes

  1. Insgesamt zeigt das Gedicht auf eine eindrucksvoller Art und Weise einen Aspekt unserer modernen Arbeitswelt, die man auch mit Entfremdung bezeichnet.
    Gemeint ist damit, dass man nur noch Teile des Arbeitsprozesses über schaut und nicht die Zufriedenheit früherer Zeiten mehr verspüren kann, wenn ein Handwerker am Ende das fertige Stück in seiner Funktion auch sehen konnte.
  2. Außerdem wird die Unmenschlichkeit dieser Arbeitswelt gezeigt, ohne Pausen und mit negativen Gesundheitsfolgen, zum Beispiel auf das Nervensystem.
  3. Am beeindruckendsten ist allerdings dann am Ende die Vorstellung, dass man bei einer solchen Arbeit selbst zu einem Objekt wird, das einem ungewissen Schicksal entgegen geht.

Eichendorff, „Rückkehr“ – ein scheinbar einfaches Gedicht mit vielen offenen Fragen

Ein äußerst interessantes Gedicht von Eichendorff präsentiert sich so:

Joseph von Eichendorff

Rückkehr

01 Mit meinem Saitenspiele,
02 Das schön geklungen hat,
03 Komm ich durch Länder viele
04 Zurück in diese Stadt.

05 Ich ziehe durch die Gassen,
06 So finster ist die Nacht,
07 Und alles so verlassen,
08 Hatt’s anders mir gedacht.

09 Am Brunnen steh ich lange,
10 Der rauscht fort, wie vorher,
11 Kommt mancher wohl gegangen,
12 Es kennt mich keiner mehr.

13 Da hört ich geigen, pfeifen,
14 Die Fenster glänzten weit,
15 Dazwischen drehn und schleifen
16 Viel fremde, fröhliche Leut.

17 Und Herz und Sinne mir brannten,
18 Mich trieb’s in die weite Welt,
19 Es spielten die Musikanten,
20 Da fiel ich hin im Feld.

Was ist ziemlich klar?

  1. Es geht um eine Rückkehr nach Hause, die in der Romantik meistens positiv gesehen wird.
  2. In der ersten Strophe ist auch noch alles sehr harmonisch.
  3. In der zweiten wird es „finster“ – und alles endet in einer großen Enttäuschung.
  4. Die zeigt sich dann ganz extrem am romantischen Ort des Brunnens, bei dem es aber nicht mehr romantisch-vertraut für das Lyrische Ich zugeht.
  5. In der vierten Strophe gibt es dann wieder Schönes, aber nicht für das Lyrische Ich.
  6. Wenn man aufmerksam liest, merkt man übrigens, dass das Lyrische Ich alles von den anderen Menschen erwartet, nicht selbst auf sie zugeht.
  7. Am Ende will das Lyrische Ich nur noch weg.
  8. Dort findet es aber auch nicht mehr die alten Verhältnisse wieder: Jetzt machen andere die Musik.
  9. Dementsprechend bleibt nur noch der Ausweg des Todes.
  10. Die beiden letzten Punkte werden übrigens durch die Rhythmusstörung in den Zeilen 17-19 unterstützt – erst in Zeile 20 kehrt wieder die alte Ruhe des dreihebigen Jambus ein – aber eben im Tod.

Offene Fragen

  1. Offen ist vor allem die Frage, warum das Lyrische Ich zu Hause nicht mehr ankommt.
  2. War es zu lange weg?
  3. Oder macht es nur den Fehler, nicht auf die Leute zuzugehen?
  4. Kann es das vielleicht gar nicht mehr?
  5. Hätte es zwischendurch Kontakt halten sollen?
  6. Ist das das Schicksal eines Künstlers?
  7. Ist das Lyrische Ich vielleicht auch einfach nur ein Opfer der Zeit und damit seines Alters geworden?
  8. Zeigt Eichendorff hier nicht eine Grundproblematik des modernen Menschen? Denn im Gegensatz zu vielen anderen Gedichten von ihm gibt es für dieses Lyrische Ich keine himmlische Heimat mehr, die auf jeden Fall bleibt.

Video zum Gedicht

Zu diesem Gedicht gibt es übrigens ein Video, das unter der folgenden Adresse abrufbar ist:

Die Video-Dokumentation ist auf der folgenden Seite zu finden:
https://www.schnell-durchblicken2.de/eichendorff-rueckkehr

Küchenmeister, Nadja, „phönix“

Im Folgenden zeigen wir, wie man ein sehr interessantes, aber auch schwieriges Gedicht „knacken“ kann, indem man

  1. mit Hilfe der induktiven Methode nach und nach Verständnis aufbaut
    (mit der induktiven Methode ist gemeint, dass man immer vom Text ausgeht und nicht von einer vorgefassten Meinung!)
    und
  2. mit Hilfe des sogenannten „hermeneutischen Zirkels“ (wird unten erklärt) immer wieder überprüft, ob der aktuelle Verständnisstand wirklich auch zu den weiteren Signalen des Textes passt.
    Kleine Anmerkung: Mit dem „hermeneutischen Zirkel“ ist nichts anderes gemeint, als dass man selbst als die interpretierende Person immer wieder eine Art Kreislauf zum Text hin macht.
    Mit dessen Hilfe hat man ein bestimmtes Verständnis erreicht
    und das überprüft man, indem man es an anderen Textstellen auf den Prüfstand stellt.

Induktives und hermeneutisches Vorgehen

  1. Das erste Signal des Textes ist die Überschrift. Beim Phönix muss man entweder auf ein gewisses Bildungswesen zurückgreifen oder aber in einem Lexikon nachschlagen.
    https://de.wikipedia.org/wiki/Ph%C3%B6nix_(Mythologie)
    Es geht um einen Vogel aus der Sagenwelt, der immer wieder verbrennt und aus der Asche wieder entsteht.
    Jetzt muss man schauen, was das Gedicht damit zu tun hat.
  2. Die erste Zeile des Gedichtes macht dann deutlich, dass es sich
    1. um einen Morgen handelt, den das Lyrische Ich als früh empfindet. Offensichtlich hat es nicht damit gerechnet, als es vielleicht aus dem Schlaf erwacht ist.
      Achtung: Hier versuchen wir schon zu verstehen, was da los ist – dabei gehen wir zum Teil über den Text hinaus und müssen dann schauen, ob das auch zum Rest des Gedichtes passt.
    2. Außerdem macht der Satz Sinn, wenn man davon ausgeht, dass das Lyrische Ich aufgewacht ist und jetzt erstmals aus dem Fenster hinausschaut.
  3. Die Zeilen 2 bis 5 nehmen wir als Einheit:
    1. Wir erfahren erstmals etwas über die angeredete Person, nämlich dass sie „scheu“ ist, also zurückhaltend, vorsichtig, vielleicht nicht viel von sich hält.
    2. Dann ist von Fotos die Rede, die das Lyrische Ich am Abend auf die Kommode gelegt hat – und zwar umgedreht, was (Achtung: Verbindung von Signalen) zu „scheu“ passt. Wir verstehen das erst mal so, dass das angeredete Gegenüber offensichtlich diese Bilder nicht sehen wollte.
  4. Den Rest der der ersten Strophe müssen wir wohl mit dem Anfang der zweiten verbinden:
    1. Das Lyrische Ich konzentriert sich jetzt auf den „Nacken“ des anscheinend noch schlafenden Partners – sonst gäbe es ja irgendeine Reaktion von dem.
      „wieder da sind“ deutet an, dass jetzt noch mehr kommt – eben durch das Wachsein in den Blick gerät.
    2. Das „lieber“ kann als Anrede verstanden werden, um die Beziehung zu verdeutlichen.
  5. Zweite Strophe:
    1. Anschließend gleitet der Blick weiter auf die Hände und nimmt dort „die blaue ader“ als etwas wahr, was seit „jeher“, also sind sie schon lange zusammen, dort ist.
    2. Im Auge behalten könnte man, dass für diese körperliche Eigentümlichkeit ein Bild aus der Natur verwendet wird.
  6. Dann hört die Betrachtung auf und es setzt die Überlegung ein.
    1. Das Lyrische Ich nimmt die Situation, dass nicht nur sein Partner, sondern auch „alle bilder“, die zum Wachsein gehören, schlafen
    2. und es nicht mehr viel Zeit hat („in den morgen ebben“)
    3. zum Anlass,
  7. Dritte Strophe:
    1. zwei Situationen anzunehmen, die anscheinend normalerweise nicht gegeben sind:
      1. Nämlich „ruhe“
      2. und das „verlorensein“, das oben zu „scheu“ passt und zur Notwendigkeit, bestimmte Fotos umzudrehen.
      3. Das verstehen wir so, dass der Partner des Lyrischen Ichs Probleme hat, mit sich, seinem (vielleicht alten) Körper oder auch mit Bildern, die er in sich trägt.
      4. Das nutzt das Lyrische Ich
        1. um „der flamme gleich die Luft“ zu „verzehren“, also aufzuleben,
        2. diese „stille“ nutzen (wo all die Probleme noch nicht wach sind)
        3. und in sich aufsaugen, um daraus vielleicht Lebensmut zu saugen.

Zusammenfassung der Signale zu Aussagen

Wenn man sich ein vorläufig abschließendes Verständnis erarbeitet hat, versucht man es, zu einer „Intentionalität“ zusammenzufassen.
Gemeint ist damit die Frage, worauf das Gedicht „hinausläuft“, was es zeigt:
Versuchen wir mal, das differenziert, also in mehreren Aussagen zu formulieren.
Am besten setzt man einfach den folgenden Satz (in verschiedenen Varianten) fort:

Das Gedicht zeigt:

  1. eine besondere Situation zwischen zwei Partnern,
  2. in der der wache für kurze Zeit Gelegenheit hat,
  3. das noch schlafende Gegenüber in Ruhe wahrzunehmen
  4. und dabei gewissermaßen aufzuleben,
  5. während es im Wachzustand anscheinend Probleme hat,
  6. „scheu“ ist, sich aber auch vor Fotos und anderen Bildern scheut,
  7. keine Ruhe findet und
  8. sich verloren fühlt.

Künstlerische Unterstützung der Aussagen

Unterstützt werden die Aussagen des Gedichtes durch

  1. durch den Rückgriff auf den Mythos vom Phönix, der genau passt zu dieser besonderen Situation der Ruhe der Nacht und der Probleme beim Wachsein.
    Man kann das gegenläufig interpretieren:

    1. Der Schlaf entspricht der Asche, die Auferstehung dann den Problemen des Tages
    2. Oder aber man geht von der Liebe aus, dann ist der Morgen genau der lebende Liebesvogel, während die Probleme des Tages ihn wieder zu Asche werden lassen.
  2. Die Symbole der Fotos und der inneren Bilder, die offensichtlich für das stehen, worunter der Partner leidet.
  3. Die Konzentration auf bestimmte Körperteile, die bei dem schlafenden Menschen für sein Wesen stehen. Möglicherweise deutet die „blaue ader“ auch daraufhin, dass es sich um einen alten Menschen handelt, möglicherweise sogar jemanden, der pflegebedürftig ist. Das ist natürlich eine reine Hypothese.
  4. Dann das in einen Neologismus gefasste Bild „ebben“, das deutlich macht, dass diese Ruhe der Nacht verschwindet wie das zurückgehende Meer.
  5. Der Konjunktiv in der dritten Strophe, der deutlich macht, dass hier viel Fantasie nötig ist, um die Probleme zu vergessen und diesen Moment der Ruhe zu genießen.
  6. Das Bild der Flamme, das erstens zum Phönix passt und ansonsten deutlich macht, dass der Morgen einen intensiven Moment der Ruhe und des Friedens bereithält, der aber eben auch verbraucht wird, aber auch für einige Zeit wieder Leben spendet.
  7. Am Ende die Vorstellung der Verwandlung, was wiederum zum Konjunktiv passt: Dieses Lyrische Ich verfügt über die Fähigkeit, aus einem Fast-Nichts etwas Positives zu machen und daraus Kraft zu gewinnen.

Zu den Grenzen der induktiven Interpretation

Wir haben uns hier um eine Interpretation bemüht, die ganz „naiv“ ist, im positiven Sinne. Also keine besonderen Kenntnisse zur Verfasserin, keine Nutzung anderer Interpretationen – einfach nur „einlassen“ auf den Text, die Worte hin und her wenden und im Rahmen des Möglichen mit Sinn füllen.

Natürlich können wir falsch liegen, aber das macht nichts, solange wir nah am Text geblieben sind.

Wir hoffen, dass wir damit allen Mut gemacht haben, die immer wieder gezwungen werden, sich mit solchen Texten in Prüfungen und Klausuren zu beschäftigen, statt sich wirklich „auf Augenhöhe“ zwischen Text und Interpret in Ruhe damit beschäftigen zu können.

Weiterführende Hinweise