Klage über die Defizite heutigen Reisens
Im Folgenden erläutern wir den Inhalt und die Aussage eines Gedichtes von Sarah Kirsch aus dem Jahr 1982, in dem beklagt wird, dass wir die die Welt heute nur noch durchrasen. Dabei übersehen wir manches, was auf den ersten Blick hässlich zu sein scheint, sich dann aber durchaus als Paradies entpuppen kann.
Aus urheberrechtlichen Gründen können wir das Gedicht hier nicht abdrucken, wir gehen davon aus, dass es vorliegt.
Die Überschrift – als erstes Verständnis-Signal
Sarah Kirsch: Fluchtpunkt
- Wie immer, lohnt es sich besonders bei nicht ganz klaren Überschriften über die Möglichkeiten nachzudenken, was damit gemeint sein könnte.
- Am ehesten ist mit einem Fluchtpunkt wohl ein Ort gemeint, zu dem man hin fliegt, vielleicht auch im optischen Bereich etwas, was man fast ins Auge fasst. Flucht hat ja wohl im Baugewerbe auch die Bedeutung einer geraden Linie. Etwas ist nicht in der Flucht.
https://de.wikipedia.org/wiki/Flucht_(Begriffskl%C3%A4rung) - Aber natürlich kann auch ein Fluchtpunkt die Stelle sein, von der man aus ins Rettende abspringt.
Vergleich zwischen früher und heute
- Bei den ersten vier Zeilen geht es um den Gegensatz oder die Weiter-Entwicklung zwischen den Reisemöglichkeiten früherer Zeiten und den heutigen Verhältnissen.
- Schade ist, dass nur sehr kurz mit Heine auf einen berühmten Dichter des 19. Jahrhunderts eingegangen wird, ohne dass dazu etwas Näheres gesagt wird. Das ist nicht ganz fair gegenüber Lesern, die mit diesem Namen nicht viel anfangen können. Und Gedichte haben wir nicht die primäre Funktion, die Leute erst mal in Bibliotheken zu schicken, um mögliche Anspielungen zu durchschauen.
Von daher: Man muss sich hier ernsthaft die Frage stellen, ob es in diesem Falle nicht gereicht hätte, einfach von „früher“ zu sprechen. Aber vielleicht war die Autorin gerade in einem Heine-Seminar gewesen und hat nicht an spätere und andere Leser gedacht. - Deshalb bleiben wir auch hier unabhängig von dem Namen bei dem Unterschied der langsamen Fortbewegung früherer Zeiten mit viel größeren Wahrnehmungsmöglichkeiten, was die Umgebung angeht, und der heutigen Art des Durchfahrens, bei dem man kaum noch etwas wahrnimmt.
Der heutige Reisende als Sklave der Maschinen
- Die nächsten acht Zeilen gehen dann genauer auf die heutige Art des Reisens ein. Es ist im wesentlichen von einer Art springen gekennzeichnet, bei dem die einzelnen Bodenberührungen kaum noch eine Rolle spielen.
- Gut gemacht ist sicherlich die Verbindung von den Einzelheiten und dem Wort „aufhalten“. Denn dadurch wird deutlich gemacht, dass etwas, was bei jedem genauen Blick von großer Bedeutung ist, hier als Hindernis empfunden wird, das man schnell hinter sich lässt.
- Interessant dann der Hinweis auf die Maschinen, deren Sklave man als Mensch gewissermaßen geworden ist. Hier ist sicherlich an entsprechende Fortbewegungsmittel vom Auto über die Eisenbahn bis zum Flugzeug zu denken.
- Sehr schön dann noch das Bild der Expedition für das nähere Kennenlernen anderer Menschen. Die werden hier als Ort des Abenteuers verstanden, in das vor allem im 19. Jahrhundert die Forscher mit großer Begeisterung aufbrachen.
- Interessant wie mit „Schutthalden Irrgärten schönen Gefilde “ ganz unterschiedliche Dinge miteinander verbunden werden. Was auffällt, ist die Steigerung ins Positive hinein. Damit soll wohl angedeutet werden, dass etwas, was zunächst wie eine Schutthalde aussieht, dann zum Irrgarten wird und schließlich zu einem Gefilde, also einer schönen Gegend.
- Der eine oder andere wird vielleicht an dieser Stelle erinnert werden an die Lebens- und Wohnverhältnisse in südlichen Ländern, wo sich hinter unscheinbaren Fassaden wahre Paradies entdecken lassen. Die werden heutzutage schnell und leicht übersehen.
Fazit:
- Die letzten vier Zeilen sind dann schon recht originell und laden zum Nachdenken ein.
- Mit ersten Zeile ist wohl gemeint, dass die Kellner die „Nachrichten“ (Zeitung als altes Wort für Neuigkeit, vgl. Newspaper) der Gäste nicht brauchen.
- Statt auf das neugierig zu sein, was die Gäste selbst gesehen bzw. erlebt haben, verlassen sich die Kellner lieber auf das Fernsehen und damit das, was sehr viele Menschen in gleicher Weise erreicht.
- Auf den ersten Blick seltsam mag der Vergleich zwischen Autos und Menschen wirken. Aber gemeint damit ist wohl, dass man bei Autos mehr auf Individualität und Eigentümlichkeit achtet als bei Menschen die alle irgendwie sich zumindest gleich verhalten und besonders auch das gleiche im Kopf haben.
- Die letzte Zeile bringt dann das Unwohlsein des lyrischen Ichs auf den Punkt.
- Es möchte anscheinend Originelles, Besonderes, wie man es früher auf Reisen erfahren konnte, und findet jetzt überall nur noch das gleiche.
- Hier wird man erinnert an das Gedicht von Durs Grünbein über den Kosmopolitismus.
https://wvm.schnell-durchblicken3.de/durs-gruenbein-kosmopolit-titelfrage/
Abschließende Einschätzung des Gedichtes
- Insgesamt ein Gedicht, das immerhin schon im Jahre 1982 auf große Probleme der modernen Welt verweist,.
- Dabei werden aber zwei Probleme miteinander vermischt, nämlich das Problem der Reisenden, die nicht genügend wahrnehmen, und andererseits die Gleichförmigkeit der Dinge.
- Hier taucht am Ende die Frage auf, ob das lyrische Ich wirklich echte Gleichförmigkeit beklagt oder nur eine unzureichende Wahrnehmung, die diesen Eindruck hervorruft. Das wäre dann ganz anders als bei dem Gedicht von Durs Grünbein.
Weiterführende Hinweise
- Weitere Beispiele für erfolgreiches Verstehen von Gedichten finden sich hier.
- Weitere Beispiel für Gedichte zum Thema „Reisen“, „Unterwegssein“ oder auch „Fremdsein“: hier
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