In diesem Hörbuch haben wir uns vorgenommen, die Erzählung „Die Judenbuche“ von Annette von Droste Hülshoff so vorzustellen, dass man damit vier Ziele erreicht werden.
Hier die Hördatei – auf ihr wird das präsentiert, was man hier auch nachlesen kann.
Ziel Nr 1: Überwindung der Distanz zu einer Lektüre
Das für uns oberste Ziel ist, dass man überhaupt bereit ist, sich mit diesem alten Text zu beschäftigen, und vielleicht sogar an der einen oder anderen Stelle ganz entspannt denkt: „O, ist ja eigentlich ganz interessant.“
Denn das sind so kleine Lockerungsübungen und man kommt dann langsam aus der Abwehrhaltung aus. Denn von der hat man ja nichts – außer wachsendem Ärger. Also lieber locker werden.
Das ist auch nötig, denn wir wissen natürlich auch, dass lange Lektüretexte einem erst mal wie ein Dschungel vorkommen, in den man sich gar nicht hinein wagt.
Da ist es dann wichtig, dass man sich zumindest ein bisschen hineintraut und dabei vielleicht sogar die eine oder andere Stelle entdeckt, bei der man sich ein bisschen umsehen kann. So etwas nennt man im Wald eine Lichtung, das ist ein Platz, bei dem man nicht nur viel Grün sieht, sonnen vielleicht sogar ein bisschen Himmel und vor allen Ding die Chance hat, beim nächsten Mal bis zu dieser Stelle schneller voran zu kommen und mehr zu sehen und zu verstehen.
Ziel Nr 2: Überblick über den Inhalt
Das zweite Ziel, das wir verfolgen, ist, dass man eben auch etwas vom Inhalt schon mitbekommt, damit man weiß, worum es geht. Das kann man natürlich auch mithilfe einer Inhaltsangabe schaffen, aber dabei hat man keinen Bezug zum Text. Das ist, wie wenn man mit einem Flugzeug aus großer Höhe einen Urwald überfliegt, natürlich sieht man da einige Dinge, aber man kommt nicht wirklich an den Wald ran.
Ziel Nr 3: Kontaktaufnahme mit dem Text der Lektüre
Das dritte Ziel ist genau das, dass man gewissermaßen Kontakt aufnimmt zu einigen Einzelheiten. Und das sind bei einer Lektüre natürlich bestimmte Textstellen. Und wir wollen helfen, möglichst schnell wichtige Textstellen zu finden und zu verstehen.
Ziel Nr 4: Was zeigen können und sich leicht zurechtfinden können
Damit hat man ganz nebenbei auch noch ein viertes Ziel erreicht – und das ist auch nicht ganz unwichtig: Denn wenn man mit uns zusammen den Text der Lektüre durchgeht, hat man hinterher nicht nur einen Überblick über die wichtigsten Stationen des Inhalts, sondern kann diese Stationen auch ganz schnell mit bestimmten Textbereichen verbinden. Und ganz praktisch: Ein Lehrer, der zu Beginn der Stunde die Lektüre kontrolliert, wird die Schüler schnell in Ruhe lassen, bei denen er markierte Textteile entdeckt.
Zusammenfassung: Was wir alles für euch tun wollen
Also fassen wir noch mal zusammen: mit unserem MP3 Hörbuch bekommt man eine Art Reiseführer auf die Ohren gelegt.
Dieser Reiseführer zeigt einem die wichtigsten inhaltlichen Stellen und macht einen auch schon etwas mit dem Text bekannt.
Damit hat man in kürzester Zeit schon mal eine ganz gute Basis, mit deren Hilfe man im Unterricht recht gut mitarbeiten kann.
Auf jeden Fall hat man sehr viel mehr als diejenigen, die nur Inhaltsangaben oder Interpretationen gelesen haben.
Und dieses erste Netzwerk von Lichtungen kann man dann später sehr leicht ausbauen im Verlaufe des Unterrichts und hat dann für eine Klassenarbeit oder Klausur eine Textausgabe, in der man sich schnell zurecht findet und damit auch gut die entsprechenden Aufgaben bewältigen kann.
Im Folgenden verwenden wir wieder eine Kombination aus induktivem und hermeneutischem Verfahren.
Induktiv = Zeile für Zeile Verständnis aufbauend
Hermeneutisch = immer wieder wird der aktuelle Verständnisstand korrigiert, nachjustiert.
Unsere Arbeit am Gedicht – was man sich so notiert
Wir haben unsere handschriftliche Bearbeitung hier eingefügt, weil man dort gut sehen kann, wie Teile des Gedichtes, die weit auseinanderstehen, trotzdem zusammengehören.
Zum Beispiel das, was zu den Augen gesagt wird: 02/18
Oder die zweifache Verwendung des „dennoch“ (11/36)
Oder „Herrscherthron“, „Knechte“ und „schüchtern“ (15/17)
Was wir später geändert haben, ist der angebliche Konditionalsatz in der ersten Strophe – später hat sich herausgestellt, dass man das besser temporal versteht.
Und was die Rhythmus-Störung angeht, so müsste bei „Gnade“ eigentlich die erste Silbe betont werden, für den Jambus muss es aber die 2. sein. Das glättet sich aber in der Regel im Vortrag.
Auf jeden Fall können wir nur jeden ermutigen, das induktive und das hermeneutische Verfahren auch so handschriftlich sichtbar zu machen, bevor man mit der Niederschrift der Interpretation beginnt.
Verständnisaufbau – Zeile für Zeile mit Zwischenergebnissen
Annette von Droste-Hülshoff
Das Spiegelbild
Strophe 1: erster Eindruck bei der Begegnung
01 Schaust du mich an aus dem Kristall,
02 Mit deiner Augen Nebelball,
03 Kometen gleich die im Verbleichen;
04 Mit Zügen, worin wunderlich
05 Zwei Seelen wie Spione sich
06 Umschleichen, ja, dann flüstre ich:
07 Phantom, du bist nicht meinesgleichen!
Vierhebiger Jambus, der nur in Zeile 34 vorne etwas gestört ist.
Ausgangspunkt: Anrede an das eigene Spiegelbild im Stil eines Temporalsatzes: „Dann, wenn …“
Vergleich der Augen mit einem „Nebelball“, also unklar, was zur Folgezeile passt: Kometen ziehen schnell vorbei – auch „Verbleichen“ passt dazu.
Dann geht es um die Gesichtszüge, in denen das Lyrische Ich „Zwei Seelen“ zu sehen meint, die sich wie „Spione“ „Umschleichen“.
Die letzten beiden Zeilen präsentieren das Ergebnis dieser Situation, die Feststellung des Unterschiedes, der Nicht-Gleichheit.
Insgesamt 1. Verständnis-Stand: Das Spiegel-Gegenüber wird als zweite Person wahrgenommen, das sich unklar und beunruhigend präsentiert. Am Ende eine Abwehrhaltung.
2. Strophe: Veränderung hin zu halber Aneignung
08 Bist nur entschlüpft der Träume Hut,
09 Zu eisen mir das warme Blut,
10 Die dunkle Locke mir zu blassen;
11 Und dennoch, dämmerndes Gesicht,
12 Drin seltsam spielt ein Doppellicht,
13 Trätest du vor, ich weiß es nicht,
14 Würd‘ ich dich lieben oder hassen?
Das Lyrische Ich verstärkt die distanzierende Abwehr, indem es das Spiegelbild zu einer Art Traum macht.
Es unterstellt ihm eine negative Wirkung („eisen“ und „blassen“).
Dann der „dennoch“-Wechsel: Jetzt erkennt das Lyrische Ich ein ein „dämmerndes“ (Morgendämmerung?) Gesicht und sieht ein „Doppellicht“.
Es folgt ein Konditionalsatz: Wenn dieses scheinbare Phantom auf das Lyrische Ich zugehen würde, weiß es nicht, ob es „lieben oder hassen“ sollte.
Insgesamt 2. Verständnis-Stand:
Das Lyrische Ich schwankt zwischen Abwehr und halber Bereitschaft zur Anerkennung / Aneignung.
3. Strophe: erneute Distanzierung angesichts der kalten Augen
15 Zu deiner Stirne Herrscherthron,
16 Wo die Gedanken leisten Fron
17 Wie Knechte, würd‘ ich schüchtern blicken;
18 Doch von des Auges kaltem Glast,
19 Voll toten Lichts, gebrochen fast,
20 Gespenstig, würd‘, ein scheuer Gast,
21 Weit, weit ich meinen Schemel rücken.
Das Lyrische Ich schaut sich jetzt das Gesicht im Spiegel genauer an.
Es beginnt mit der Stirn als dem Ort des Verstandes – interessant die negative Sicht der „Fron“-Arbeit bei den Gedanken.
Demgegenüber ist seine Haltung „schüchtern“.
Probleme hat es mit dem kalten Glanz der Augen, wo es nur totes Licht sieht. Das ist wieder eine Rückkehr zur Sicht der 1. Strophe.
Am Ende steht erneute Distanzierung aus Angst heraus.
Insgesamt 3. Verständnis-Stand:
Die Eindrücke und das Verhältnis wechseln ständig, hier wieder Ablehnung, vor allem wegen der Augen. Demgegenüber tritt die Verstandeswelt der Stirn zurück.
4. Strophe: Erneuter Wechsel vom Positiven zum Negativen
22 Und was den Mund umspielt so lind,
23 So weich und hülflos wie ein Kind,
24 Das möcht‘ in treue Hut ich bergen;
25 Und wieder, wenn er höhnend spielt,
26 Wie von gespanntem Bogen zielt,
27 Wenn leis‘ es durch die Züge wühlt,
28 Dann möcht‘ ich fliehen wie vor Schergen.
Als nächstes geht es um die Mundpartie, die erst mal positiv wahrgenommen wird, sogar als hilfebedürftig.
Auch hier wieder ein Wechsel ins Höhnische, Aggressive mit entsprechender Reaktion des Lyrischen Ichs.
Insgesamt 4. Verständnis-Stand:
Neu ist der Eindruck der Hilflosigkeit beim Gegenüber, der aber auch wieder ins Gegenteil verkehrt wird. Eindruck ständigen Wechsels.
5. Strophe: Eine Art Vergöttlichung des eigenen Spiegelbildes
29 Es ist gewiss, du bist nicht ich,
30 Ein fremdes Dasein, dem ich mich
31 Wie Moses nahe, unbeschuhet,
32 Voll Kräfte die mir nicht bewusst,
33 Voll fremden Leides, fremder Lust;
34 Gnade mir Gott, wenn in der Brust
35 Mir schlummernd deine Seele ruhet!
Versuch der Selbstvergewisserung der Nicht-Identität
Rückgriff auf eine Stelle aus der Bibel, wo der Prophet Moses sich dem Heiligen ohne Schuhe nähern soll (2. Mose 3, 4-5).
Das Gegenüber wird hier immer größer, heiliger, fast göttlich.
Das Lyrische Ich erkennt dort fremde Erlebnisse positiver und negativer Art, die es nicht in sich selbst entdecken möchte.
Insgesamt 5. Verständnis-Stand:
Zum ständigen Wechsel kommt jetzt eine Art heilige Scheu vor dem eigenen Spiegelbild, in dem das Lyrische Ich vieles ahnt, wovor es Angst hat.
6. Strophe: Wendung ins Positive: Bereitschaft zur Begegnung mit Weinen
36 Und dennoch fühl‘ ich, wie verwandt,
37 Zu deinen Schauern mich gebannt,
38 Und Liebe muss der Furcht sich einen.
39 Ja, trätest aus Kristalles Rund,
40 Phantom, du lebend auf den Grund,
41 Nur leise zittern würd‘ ich, und
42 Mich dünkt – ich würde um dich weinen!
Ein erneutes „dennoch“: Das Lyrische Ich erkennt ein Gefühl der Verwandtschaft an – gerade in den „Schauern“, die es eben erahnt hat.
Es möchte die „Furcht“ mit der „Liebe“ verbinden.
Am Ende ist es sogar zu einer Begegnung mit dem Spiegel-Gegenüber bereit. Dabei wird eine doppelte Reaktion angenommen: Zittern und ein „um dich weinen“. Was dafür der Grund ist, bleibt offen und lässt sich wohl nur auf der Sinn-Ebene erschließen.
Bestimmung der Aussagen des Gedichtes (Intentionalität)
Das Gedicht zeigt:
sehr vielschichtige Eindrücke und Reaktionen bei der Betrachtung des eigenen Spiegelbildes.
Es beginnt mit Unklarheit und Irritation, was zur Ablehnung eines Doppelbildes.
Versuch der Verdrängung in die Traumwelt, was eher in Richtung Albtraum geht.
Dann aber auch erstmals Unklarheit, ob das Lyrische Ich „lieben oder hassen“ muss/kann.
Genauere Betrachtung von der Stirn, über die Augen bis hin zum Mund produziert wieder sehr unterschiedliche Eindrücke, die insgesamt eher negativ sind und beim positiven Ansatz einer gewissen kindlichen Hilflosigkeit gleich wieder ins Negative gewendet werden.
Ab der 5. Strophe wechselt die Sicht auf das Spiegelbild vom Gespenstischen zum Geheimnisvoll-Göttlichen, vor dem man nicht nur negativ erschauert.
Dementsprechend steht am Ende die Bereitschaft, dieses Phantom mit seinen Perspektiven in eine andere Welt der Möglichkeiten anzunehmen, wenn auch zitternd und mit der Bereitschaft zu weinen.
Dieses „weinen“ lässt sich aus dem Gedicht selbst heraus nicht sicher verstehen. Wir verstehen das so, dass das Lyrische Ich über das Spiegelbild auf ganz neue Sichtweisen auf sich selbst und das Leben gekommen ist. Die sind durchaus beunruhigend, werden aber als zum Menschen bzw. zum Leben gehörend angenommen. Und diese tiefen Blicke in eine größere Wirklichkeit können nur mit „zittern“ und „weinen“ ertragen werden. Darunter ist aber keine Trauer zu verstehen, sondern eine tiefe gefühlsmäßige Reaktion. Schließlich kann auch jemand weinen, der gerade tief bewegt ist.
Künstlerische Mittel
Wie immer zählen wir hier nicht einfach auf, was sich alles so finden lässt, sondern versuchen die „strategischen“ Mittel zu finden, die die Wirkung des Gedichtes ausmacht. Da lässt sich folgendes feststellen:
Die direkte Anrede spielt eine Rolle – die wird bis zum Ende durchgezogen. Interessant ist der Verzicht darauf in der 4. Strophe: Das entspricht dem Fluchtgedanken in Zeile 28.
Dann spielt der Konjunktiv eine Rolle (13, 17, 20, 39), was deutlich macht, wie sehr es sich um Kopfgeburten des Lyrischen Ichs handelt.
Bilder des Unklaren („Nebelball“, 2, „Verbleichen“, 03) spielen eine Rolle; außerdem solche der negativen Einwirkung (09, 10) mit der Konnotation des Alterns oder gar des Todes. Dazu auch „dämmerndes Gesicht“, (11). Vergleiche „des Auges kaltem Glast“, „Voll toten Lichts“ (18,19).
Eine wichtige Rolle spielt in diesem Zusammenhang auch das Neben- und Gegeneinander: „zwei Seelen“ (05), „Doppellicht“ (12), „lieber oder hassen“ (14), „Liebe“ und „Furcht“, (38), „Voll fremden Leides, fremder Lust“, (33)
Dann die Anspielung auf die Moses-Geschichte und die damit verbundene Vorstellung vom Heiligen (31), verbunden mit „Schauern“ (37) und „zittern“ (41). Dazu passt auch „Gnade mir Gott“, (34).
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