Ein „Morgenlied“ ein Plädoyer für den ewigen Optimismus des Lebens
Das Schöne an dem folgenden Gedicht ist, dass es zum einen recht kritisch auf den eigenen Umgang mit Lebenschancen zurückblickt, dann aber nicht in Melancholie oder gar Depression verfällt, sondern mutig weitermacht.
Fortlaufende Inhaltserläuterung
Meyer, Conrad Ferdinand
Morgenlied
Der Titel sagt nicht allzuviel aus.
Deutlich ist allerdings, dass es ein Lied ist,
das entweder am Morgen gesungen wird
oder sich auf den Morgen, also den Beginn des Tages bezieht.
01 Mit edlen Purpurröten
02 Und hellem Amselschlag,
03 Mit Rosen und mit Flöten
04 Stolziert der junge Tag.
05 Der Wanderschritt des Lebens
06 Ist noch ein leichter Tanz,
07 Ich gehe wie im Reigen
08 Mit einem frischen Kranz.
Die erste Strophe präsentiert zunächst einmal die Kennzeichen eines neuen Tages.
Zusammengefasst wird das in Zeile 04, indem „der junge Tag“ personifiziert wird – und zwar in der Weise, dass er „stolziert“, also fast ein bisschen übermütig, auf jeden Fall sehr selbstbewusst einherschreitet.
Ab Zeile 05 weitet sich der Blick dann allerdings auf das ganze Leben.
Es erscheint allen wohl in der Jugend als „ein leichter Tanz“ – und man erwartet, dass da möglicherweise eine Veränderung kommt.
Die letzten beiden Zeilen gehören der Selbstbeschreibung des Lyrischen Ichs, das sich voll auf diese schöne, vielversprechende Anfangsstimmung einstellt.
09 Ihr taubenetzten Kränze
10 Der neuen Morgenkraft,
11 Geworfen aus den Lüften
12 Und spielend aufgerafft-
13 Wohl manchen lass ich welken
14 Noch vor der Mittagsglut;
15 Zerrissen hab ich manchen
16 Aus reinem Übermut!
Die zweite Strophe wendet sich dann genauer all dem Schönen zu, was einem am Morgen oder in der Jugend präsentiert wird und das man auch gerne aufnimmt.
Die zweite Hälfte allerdings ist dann ein kritischer Rückblickl auf die Vergänglichkeit all dieser schönen Anfänge.
Dabei gibt es zwei Varianten, manches hat das Lyrische Ich nur einfach so „welken“, also von selbst dahingehen lassen.
Anderes ist auch zerstört worden durch Übermut.
Auch wenn das im Gedicht nicht angesprochen wird, könnte man hier an Liebesverhältnisse denken und sie sich entsprechend ausmalen.
17 Mit edlen Purpurröten
18 Und hellem Amselschlag,
19 Mit Rosen und mit Flöten
20 Stolziert der junge Tag-
21 Hinweg, du dunkle Klage,
22 Aus all dem Licht und Glanz!
23 Den Schmerz verlorener Tage
24 Bedeckt ein frischer Kranz.
Die letzte Strophe scheint auf den ersten Blick eine reine Wiederholung zu sein.
Das gilt allerdings nur für die ersten vier Zeilen.
Dann rafft sich das Lyrische Ich auf und bricht die letztlich doch negative Rückschau ab.
Denn – so darf man die letzten beiden Zeilen wohl verstehen – das Lyrische Ich hat gerade wieder einen neuen Anfang geschenkt oder angeboten bekommen und will sich dem voll widmen.
Aussagen und Bedeutung des Gedichtes / Intentionalität
Das Gedicht macht deutlich, dass „leben“ immer wieder heißt, vor sich einen neuen Tag oder eine neue Lebensphase zu haben, was mit viel Erwartung und auch Hoffnung verbunden ist.
Deutlich wird aber auch, dass man selbstkritisch feststellen muss, dass aus diesen Chancen nicht viel geworden ist.
Spannend ist dabei, dass das Lyrische Ich sich selbst die Verantwortung oder aber auch die Schuld zuschreibt.
Neben dieser Haltung der Nachdenklichkeit und der Kritik, vielleicht auch der Trauer über das, was im Leben vielleicht unvermeidlich ist, gibt es am Ende aber auch den immer noch leichten Sprung in ein neues Chancen-Abenteuer hinein.
Letztlich kann man daraus den Schluss ziehen, dass die beste Bewältigung einer traurigen Situation die Konzentration auf eine neue Chance ist.
Erinnert wird man bei diesem Gedicht schnell zum einen an
Hermann Hesses Gedicht, „Stufen“, in dem es heißt: „Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne“. Wikipedia verweist auf die folgende Seite: https://hhesse.de/gedichte/stufen/
Zum anderen kann man aber auch an Eichendorffs „Frische Fahrt“ denken.
Das Gedicht findet man zum Beispiel hier.
Weiterführende Hinweise
Ein alphabetisches Gesamtverzeichnis unserer Infos und Materialien gibt es hier.
Eine Übersicht über unsere Videos auf Youtube gibt es hier.
Je schwieriger das Gedicht, desto wichtiger die Methode
Wenn wir Gedichte interpretieren, dann immer „induktiv“ mit „hermeneutischer Kontrolle“.
„Induktiv“ heißt dabei, dass wir uns Zeile für Zeile durcharbeiten und dabei schauen, was zusammenpasst und eine Aussage und vielleicht sogar Sinn erkennen lässt.
„Hermeneutisch“ heißt, dass man immer wieder das Verständnis anpasst. Am Anfang hat man ein „Vor-Verständnis“ – und dann beginnt man eine Art Gespräch mit dem Text. Der liefert das, was das Lyrische Ich von sich gibt. Und wir als Interpreten melden dem Text gewissermaßen zurück, wie wir das verstehen. Jetzt kommt natürlich der Punkt, dass wir die Antwort des Textes auf unser aktuelles Verständnis mit ihm selbst überprüfen müssen. Denn der Text kann ja nicht mehr reden, als der Autor ihm ein für allemal mitgegeben hat.
Insgesamt haben die beiden Methoden den Vorteil, dass man ganz nah am Text ein Verständnis aufbaut und das immer wieder am Text kontrolliert.
Wenn wir dabei ordentlich arbeiten, kann kein Deutschlehrer der Welt das, was rauskommt, zurückweisen. Es kann höchstens sein, dass wir nicht genau genug hingeschaut haben. Aber das kann man natürlich üben.
Übrigens spielt bei der Interpretation des Gedichtes der Autor überhaupt keine Rolle. Was er geschrieben hat, hat er geschrieben – und nur das ist Literatur. Alles, was man sonst noch aus seiner Biografie o.ä. weiß, ist „Literaturgeschichte“. Denn dann wird ein literarisches Werk zu einem Zeitdokument. Kunst und eben auch Literatur ist aus Prinzip zeitlos, weil ja der berühmte Satz gilt: „Kunst entsteht im Auge des Betrachters.“ Und wir lassen dem Autor natürlich seinen Anteil und machen daraus: „Kunst entsteht (endgültig erst) im Auge des Betrachters und das Verständnis ändert sich deshalb auch ständig.“
Durs Grünbeins Gedicht „Kosmopolit“ als Herausforderung
Ein schönes Beispiel für eine Herausforderung ist das Gedicht „Kosmopolit“ von Durs Grünbein.
Wenn man die Überschrift des Gedichtes liest und ein bisschen weiß, in welchem Zusammenhang dieses Wort verwendet wird. Dann hat man schon ein erstes Vor-Verständnis von dem, was das Gedicht behandelt.
Es geht offensichtlich um einen Menschen, der sich der ganzen Welt nahe fühlt, global denkt und wahrscheinlich auch gerne reist und in andere Kulturen eintaucht.
Wikipedia ist dann noch ein bisschen genauer, indem „Kosmopolit“ mit „Kosmopolitismus“ verbunden wird – und dafür wird die Erklärung geliefert:
„Kosmopolitismus (von griechischκόσμοςkósmos ‚Weltordnung, Ordnung, Welt‘ und πολίτης polítes ‚Bürger‘), auch Weltbürgertum, ist eine philosophisch-politische Weltanschauung, die den ganzen Erdkreis als Heimat betrachtet. “ https://de.wikipedia.org/wiki/Kosmopolitismus
Die ersten beiden Zeilen des Gedichtes
überraschen den Leser dann allerdings. Das Lyrische Ich geht vom extremsten Fall des Kosmopolitendaseins aus, nämlich von der weitesten Reise.
Und am Tag darauf, behauptet es, dass ihm klar geworden sei, vom Reisen nichts zu verstehen.
Damit wird natürlich eine sehr große Spannung aufgebaut, weil hier etwas Überraschendes und auf den ersten Blick Unverständliches präsentiert wird.
Denn auf jeden Fall ist klar, dass der „Kosmopolit“ des Gedichtes nicht zu Hause von der Ferne träumt und vielleicht viele Bücher über ferne Welten liest oder auch mit vielen Menschen in anderen Kulturen Kontakt hält, sondern er ist immer wieder unterwegs gewesen.
Unverständlich muss dem Leser hier erscheinen, dass jemand, der immer gereist ist, angeblich vom Reisen nichts versteht. Das kann nur als Provokation gemeint sein, denn wer viel reist, versteht automatisch etwas vom Reisen. Allenfalls macht er eine neue Erfahrung, wird ihm plötzlich etwas klar – aber dann würde man das anders formulieren.
Die Zeilen 3-6: Negativ-Erfahrungen beim Reisen
Im folgenden
wird eine Kette von Eindrücken und Erfahrungen zusammengestellt, die man bei einem Kosmopoliten nicht vermutet, sondern eher bei einem, der seinen ersten Fernflug angetreten hat.
Keiner, der immer wieder geflogen ist, wird im Bekanntenkreis als neue Erfahrung verkaufen:
„Im Flugzeug eingesperrt, stundenlang unbeweglich“.
Die ironische Reaktion wäre sicher: „Du, das ist mir aber jetzt absolut neu.“
Auch die Feststellungen,
„Unter mir Wolken, die aussehn wie Wüsten, / Wüsten, die aussehn wie Meere, und Meere, / Den Schneewehen gleich, durch die man streift“
passen irgendwie nicht zu den plötzlichen Erkenntnissen eines Weltreisenden. Das gehört eher in eine Reportage – als allgemeine Erfahrung des Reisens würden sie wohl nicht so gut ankommen.
Und ob Wolken wirklich aussehen wie Wüsten, mag jeder selbst beurteilen.
Und wenn man bei Wüsten an Meere denkt, ist das in der Regel schon farblich ein Problem.
Und Meere aus dem Flugzeug mit Schneewehen zu vergleichen, dürfte schwer nachzuvollziehen sein.
Insgesamt hat man den Eindruck, dass dieses weit gereiste Lyrische Ich etwas Probleme hat mit der Auswahl seiner Eindrücke und deren Schilderung.
Außerdem fragt sich der aufmerksame Leser sicher, ob es zum Begriff des „Kosmopoliten“ vor allem gehört, sich mit dem Fliegen zu beschäftigen. Wenn man das früher als Schüler in einem Aufsatz gemacht hätte, würde der Lehrer wohl „Thema verfehlt“ an den Rand schreiben.
Aber ein Dichter ist ja glücklicherweise kein Schüler und darf erst mal alles.
Wir behalten aber schon mal im Auge, dass in den ersten sechs Zeilen keine Rede ist von fremden Kulturen und vielleicht auch der Freude, dort etwas zu erleben und sich davon innerlich bereichern zu lassen.
Und wäre es ein Vortrag, die Zuhörer wären sicher enttäuscht oder besonders gespannt auf das, was jetzt noch kommt. Und die Zeilen laufen gewissermaßen und werden immer weniger.
Zeile 7 und 8: Der „Narkose“-Hammer
Bis zur Zeile 6 hat sich beim Leser „rezeptionsästhetisch“ eine gewisse Antihaltung gegen dieses Lyrische Ich aufgebaut, eine Enttäuschung. Man hat das Gefühl hat, dass hier etwas nicht passt, dass einem etwas vorgeführt wird, was mit der Realität so nicht viel zu tun hat, wenn man von der Überschrift des Gedichtes ausgeht.
Natürlich mag es Vielflieger und auch Kosmopoliten geben, die irgendwann das Reisen leid sind. Aber dann hätte man doch gerne etwas erfahren über das Verhältnis dieses Leidens zur kosmopolitischen Lust an der Ferne und am Anderen.
Das Gedicht heißt ja nicht „Der Ex-Kosmopolit“.
Auch wird sich ein solches Leiden eher langsam einschleichen und das harsche Urteil, das hier gefällt wird, hat dann eine lange Vorgeschichte.
Am fragwürdigsten ist dann das Bild der „Narkose“.
Wenn wir uns recht erinnern, unsere letzte Operation liegt glücklicherweise lange zurück, dann war die „Narkose“ ein unter Umständen unangenehmer Aussetzer und der größte Wunsch war, wieder in die Normalität des Lebens zurückzukehren.
Wenn ein Mensch nach einer Narkose anders denkt als vorher, muss er sich wohl ernsthafte Sorgen um seinen Gesundheitszustand machen, falls er das noch kann.
Wir würden hier eher an das Abnehmen einer Brille mit einem bestimmten Filter denken, der uns dann die Realität anders wahrnehmen lässt.
Interessant auch die Veränderung, die das Lyrische Ich an sich wahrnimmt: Es weiß jetzt, was es heißt, „über Längengrade zu irren“. Das muss aber in der Narkose ein besonders übler Traum gewesen sein. Normalerweise passiert so etwas eher im Schlaf.
Da das Irren auf jeden Fall etwas Negatives sein, können wir nur annehmen (als Hypothese), dass die „Narkose“ hier auf besondere Weise bildlich gemeint ist, nämlich im Sinne eines eigenen Verständnisses des Vorgangs.
„Narkose“ heißt dann vielleicht nur, dass das Lyrische Ich irgendwie krank war bei all dem, was es als „Kosmopolit“ bisher getan hat und jetzt gewissermaßen gesund aufwacht und mit Schaudern auf seine Situation vor der OP und in einem erweiterten Sinne auf sein früheres Leben zurückblickt.
Noch eine Ergänzung:
Die Narkose ist natürlich auch ein Zeitraum weitgehender Leblosigkeit. Vor diesem Hintergrund könnte das Lyrische Ich natürlich sein früheres Leben wirklich als „Narkose“ sehen, wenn das auch ein sehr radikales Bild ist.
Zeile 9-12: Vertiefte Kritik am Reisen
Ab der Zeile 9 wird das Lyrische Ich dann deutlicher, was seine Kritik an dem Dasein vor der Narkose oder besser Operation angeht.
Natürlich wird bei Reisen in ferne Länder bzw. Kulturen „Zeit gestohlen“ – aber das gilt natürlich nur, wenn es eine bessere Alternative gibt. Oder will das Lyrische Ich den Titel komplett negativ interpretieren. Steht es dann vielleicht sogar ein für „Nationalismus und Provinzialismus“ – so die Negativ-Abgrenzung der Wikipedia zum kosmopolitischen Ideal.
Dass „den Augen Ruhe“ gestohlen wurde, hätte wohl einen kosmopolitischen Augenmenschen wie Goethe die Augenbrauen hochziehen lassen. Möglicherweise hätte der Geheimrat diesem Ex-Kosmopoliten – muss man wohl sagen – mahnend die Faust-Worte ins Stammbuch geschrieben: „„Zum Sehen geboren, / Zum Schauen bestellt, / Dem Turme geschworen, / Gefällt mir die Welt.“ Es scheint sich hier um einen arg ermüdeten Ex-Kosmopoliten zu handeln, wenn er keine Lust mehr hat Zeit zu opfern für neue Erfahrungen und neue Seh-Erfahrungen zu machen.
Dann in Zeile 10 plötzlich ein Themenwechsel: Jetzt geht es nicht mehr ums Reisen, sondern um das, was den interkulturellen Kontakt ausmacht: „Das genaue Wort verliert seinen Ort.“ Stimmt – aber das galt und gilt doch gerade als Errungenschaft der Mehrsprachigkeit, dass das scheinbar „genaue“ Wort plötzlich seine letztlich auch „provinzielle“ (siehe oben) Ortsgebundenheit verliert.
Aber Vorsicht: Man muss immer bereit sein, sich auf eine andere Gedanken- und Vorstellungswelt einzulassen. Suchen wir doch mal nach dem Verlust an Genauigkeit im interkulturellen Kontakt. Hier können Erfahrungen aus internationalen Konferenzen helfen. Wenn es dann nicht um Fragen der Chemie oder der Atomphysik, sondern um sprachgebundene kulturelle Gegenstände geht, ist es wirklich problematisch, wenn Goethes „Faust“ nicht in Deutsch besprochen wird. Jedenfalls soll es jetzt schon viele Veranstaltungen der Germanistik, also der Fachwissenschaft der deutschen Sprache und Literatur, geben, die in englischer Sprache ablaufen. Das ist sicher gut für die Verständigung, aber ob es auch für die Tiefe des Verstehens gut ist …
Also: Es hat sich gelohnt, hier sich auf die Gedanken des Lyrischen Ichs offen einzulassen. Anscheinend kritisiert es eine Weltäufigkeit, die mehr mit Laufen zu tun hat als mit Welt.
Jetzt versteht man auch ganz gut, was mit dem „Schwindel“ gemeint sein kann, der beim „Tausch von Jenseits und Hier“ einhergeht. Wir wagen mal die Hypothese, dass es dem Lyrischen Ich hier um ein leichtfertiges Hin und Her zwischen „verschiedenen Religionen, mehreren Sprachen“ geht – mit der Strafe des Verlusts an Genauigkeit.
Zeile 13-17: Der Fluch des „Transitraums“
Zu dem Verlust an „Genauigkeit“, man könnte auch sagen „Individualität“, „Originalität“, „Einzigartigkeit“ – alles Eigenschaften nicht nur des einzelnen Menschen, sondern auch der kulturellen Welten – passen dann die negativen Reisebilder:
„Überall sind die Rollfelder gleich grau“.
Und dann die Krankenzimmer „gleich hell“ sind, soll wohl auch ein Hinweis auf klinische Sauberkeit sein, die es verhindert, dass die Kranken dort etwas finden, woran das Auge sich festhalten und von wo aus die Gedanken wegfliegen können.
„Transitraum“ bedeutet dann wohl ein unguter Zwischenort zwischen eigentlichen Orten, etwas Künstliches, das vom wirklichen Leben getrennt ist.
Sehr schön die Formulierung: „Wo Leerzeit umsonst bei Bewußtsein hält“ – offensichtlich ist das hier wirklich vergeudete Zeit, die man besser verschläft o.ä.
Und dann am Ende der Clou, das angebliche „Sprichwort wahr aus den Bars von Atlantis“, einem übrigens untergegangenen Kontinent.
„Reisen ist ein Vorgeschmack auf die Hölle.“
Darauf sollte man natürlich noch ein bisschen genauer eingehen: Das Reisen wird hier auf sehr pointierte Weise als Vorgang angesehen, bei dem man den eigentlichen Ort seines Lebens, in dem man eingetaucht ist, mit der ungewissen Aussicht verlässt, woanders in gleicher Weise heimisch werden zu können.
Dem Lyrischen Ich geht es wohl vor allem darum, ein Kosmopoliten-Dasein anzugreifen, das nur müde macht, am Ende nur noch Gleichförmigkeiten oder falsche Ähnlichkeiten erkennt, vor allem keinen sicheren Ort mehr hat, wo es wirklich „genau“ sein kann.
Verdeutlicht wird es an scheinbaren Paradoxien, etwa am Anfang, wo man, wenn man am weitesten gereist ist, am wenigstens vom Reisen versteht.
Oder das Bild der Narkose, die auf eine vorausgehende Krankheit verweist, die jetzt überwunden wird.
Vor allem wird wohl auch kritisiert, dass die Vielfalt der Kulturen immer mehr eingeebnet wird
und sich ein falsch verstandener Kosmopolitismus nur in einem „Transitraum“ bewegt, der eigentlich nicht verlassen wird.
Vergleich mit Eichendorff, „Rückkehr“
Im Rahmen des Abiturs 2020 war das Gedicht von Grünbein, mit einem der beiden Gedichte von Eichendorff zu vergleichen.
Ohne darauf genauer eingehen zu wollen, haben wir den Eindruck, dass beide zum gleichen Ergebnis kommen, dass nämlich die echte Welt zunächst oder überhaupt die ist, in der man aufgewachsen ist.
Eichendorff begründet das nur nicht näher, während Grünbein ausführlich, wenn auch in zum Teil schwierigen Bildern auf die Probleme hinweist, wenn man zwar zwischen verschiedenen Welten pendelt, allerdings ohne wirklich auch dort heimisch zu werden.
Verweis auf ein Buch
An dieser Stelle sei auf ein Buch verwiesen, das auf die Gefahren einer falschen „Vereinheitlichung“ der Welt verweist.
Thomas Bauer, Die Vereindeutigung der Welt: Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt, Reclams Universal-Bibliothek Nr. 19492, Ditzingen 2018
Was versteht man unter einem Drama und einer Szene?
Ein Drama ist ein Stück, das auf der Bühne aufgeführt werden kann oder meistens auch wird.
Das Besondere: Es gibt normalerweise keinen Erzähler, sondern nur die Figuren, die miteinander sprechen und zwischendurch auch ein bisschen handeln.
Das Zuschlagen einer Tür wäre etwas, was auf einer Bühne ganz normal die Gefühle der Figur und ggf. das Gesagte unterstreicht.
Eine Prügelei allerdings ist nicht theatertypisch.
Eine Szene ist ein Teil eines Dramas – meistens dadurch bestimmt, dass wichtige Figuren die Bühne betreten oder verschwinden. Damit ändert sich die Situation auf der Bühne natürlich.
Solche Szenen gibt man in Deutscharbeiten gerne als Analyse-Aufgabe, weil sie in sich mehr oder weniger geschlossen sind.
Das Schaubild macht deutlich, dass man sich als Schüler meistens mit der Buchversion von Dramen links beschäftigt.
Gegeben ist dann aus den häufig 5 Akten eine ganz bestimmte Szene, die wir hier rot markiert haben.
Es gibt allerdings auch Dramen, die weniger oder gar keine Akteinteilung haben, sondern zum Beispiel „Bilder“ präsentieren. Die funktionieren dann aber genauso wie Szenen.
Wie analysiert man eine Dramenszene?
Die gute Nachricht:
Eine Dramenszene analysiert beziehungsweise interpretiert man genauso wie ein Gedicht oder eine Kurzgeschichte.
Man sieht hier sehr gut, was bei der Analyse einer Dramenszene genauso ist wie bei einer Kurzgeschichte oder einem Gedicht (der untere Bereich).
Das Besondere ist der dramatische Konflikt, der zwischen Figuren auf einer Bühne ausgetragen wird – in der Regel ohne Erzähler o.ä.
Ein Punkt ist ähnlich wie bei einer Roman-Episode – nämlich die Notwendigkeit der Beschreibung des Werk-Kontextes.
Was das Besondere bei der Analyse einer Dramenszene ist:
Natürlich gibt es ein paar Besonderheiten, die mit der Art des Textes zusammenhängen.
Zum einen handelt es sich eben um einen Auszug aus einem Theaterstück, d.h.: es gibt keinen Erzähler, sondern nur Figurenrede mit Regieanweisungen, damit man weiß, wie man das auf einer Bühne spielen könnte oder sollte.
Die zweite Besonderheit ist, dass es sich um einen Auszug aus einem größeren Werk handelt. Das gibt es aber wiederum genauso bei einer Episode aus einem Roman zum Beispiel.
—
D.h. die Analyse einer Dramenszene erfolgt in den folgenden Schritten:
Wir geben hier erst mal nur einen Überblick und gehen in eigenen Beiträgen auf die jeweiligen Punkte ein.
—
1. Einleitungssatz mit Angabe des Themas
—
2. Einordnung in den Zusammenhang – vor allem: Welchen Stand hat der Konflikt erreicht, der zu jedem Drama gehört – und welche Elemente der „Vorgeschichte“ spielen in dieser Szene eine Rolle?
—
3. Analyse der dramatischen Entwicklung in der Szene
dabei ggf. eingehen auf die Figurenkonstellation
aber auch schon besondere sprachliche oder andere Mittel
—
4. Zusammenfassung der inhaltlichen Aussagen:
(Intentionalität = „Absicht“ des Textes = das, worauf er hinausläuft)
„Die Szene zeigt / macht deutlich …“
(und dann möglichst differenziert, d.h. in einzelne Teilpunkte auseinandergezogen)
—
5. Künstlerische Unterstützung der inhaltlichen Aussagen
Also nicht einfach Mittel auflisten, sondern sie auf den Inhalt bzw. die Aussagen beziehen
—
6. Gesamteinschätzung der Bedeutung der Szene
entweder: Was bedeutet sie für die Gesamtentwicklung
Interpreten-Perspektive (der kennt bereits das ganze Stück)
oder: Welche Konsequenzen, Möglichkeiten ergeben sich für die weitere Entwicklung (hierbei geht man davon aus, dass für die Figuren in der Szene ja die weitere Entwicklung nicht schon bekannt ist)
Figuren-Perspektive
—
7. Sinnpotenzial der Szene
Was kann man mit ihr (vor allem heute noch) anfangen?
Das Gedicht besteht aus 7 Versgruppen zwischen einer Zeile und drei Zeilen.
Die ersten beiden Gruppen bilden eine Einheit: In ihr wird kurz eine Situation beschrieben, bei der das Lyrische Ich auf eine Schaufensterscheibe zugeht und dabei das Gefühl hat, sich selbst entgegenzukommen.
Interessant ist der Nachsatz: „wie ich bin“. Das macht deutlich, dass sein Selbstbild möglicherweise nicht dem entspricht, was er zu sehen bekommt. Übrigens eine ganz natürliche Situation, die jeder vorm Spiegel kennt, spätestens dann, wenn er mit seinem Aussehen vorm Ausgehen noch nicht zufrieden ist oder feststellt, dass er zum Friseur müsste.
Das Besondere ist nun die dritte Versgruppe, denn da ist von einem „Schlag“ die Rede. Es geht wohl etwas „Schlagartiges“, das einem in solch einer Situation deutlich werden kann. Auf jeden Fall „trifft“ hier ein „Schlag“, es ist „nicht der erwartete Schlag“, wohl aber einer, der trotzdem trifft. Das bleibt hier sehr dunkel, wir meinen auch: unnötig dunkel. Vielleicht soll jeder Leser des Gedichtes selbst überlegen, was ihn in einer solchen Situation – wohl schmerzlich – treffen könnte.
Das „trotzdem“ in der nächsten (abgetrennten) Zeile macht deutlich, dass sich hier Vorstellungen stark gegenüberstehen.
Das Lyrische Ich verarbeitet aber nichts, sondern geht einfach weiter.
Das ist wohl auch der Punkt, der letztlich in der nächsten Versgruppe dazu führt, dass das Lyrische Ich „vor einer kahlen / Wand“ steht und „nicht mehr weiter-/weiß.“
Ganz offensichtlich ist es in eine Sackgasse geraten. Alles spricht dafür, dass das damit zusammenhängt, dass es nicht rechtzeitig auf die (vermutlich gegebene) Diskrepanz (großer, gefährlicher Unterschied) zwischen dem Selbstbild und dem Spiegelbild geachtet hat.
So bleibt als Ausblick nur, dass das Lyrische Ich „später dann“ von jemandem abgeholt wird. Es ist eine ausweglose Situation, aus der es sich anscheinend nicht befreien kann oder will.
Interessant ist der lakonisch kurze Schlusspunkt: „ab“ – mehr kann man zu diesem Menschen und seiner Situation nicht mehr sagen.
Aussage(n) des Gedichtes
Das Gedicht zeigt:
einen Menschen, der angesichts einer Schaufensterscheibe mit einer anderen Sicht auf sich selbst konfrontiert wird, die ihn – ohne dass das näher ausgeführt wird – wie ein Schlag trifft.
dass dieser Mensch das aber nicht verarbeitet und einfach weitergeht
und so schließlich in einer ausweglosen Situation vor einer Wand landet
und am Ende hilflos da steht und nur noch auf fremde Hilfe warten kann.
Künstlerischer Mittel
Die Wirkung des Gedichtes ergibt sich vor allem durch
seinen darstellerischen Minimalismus. Alles wird sehr konzentriert und an wesentlichen Stellen auch offen.
Wichtig sind die Strophensprünge, die das Vorwärts- und Weitergehen des Lyrischen Ichs deutlich machen, wobei es eben zu Zusammenstößen an den Strophenenden kommt.
Am wirkungsvollsten ist der letzte Übergang und das maximal verkürzte „ab“, das die Ausweglosigkeit eines Niedergangs deutlich macht.
Kreative Anregungen
Ausgehend von diesem Gedicht kann man wunderschöne eigene Texte schreiben, in denen einem das Schicksal gewissermaßen eine letzte Warnung gibt. Es kann aber auch sein, dass sich alles gut auflöst – wie in dem folgenden Gedicht:
Lars Krüsand
Erleichterung
Da geht man
einkaufen,
denkt
an nichts Böses.
Und dann zeigt einem
das große Schaufenster
das eigene Spiegelbild:
einen Menschen
schmerzlich gebeugt
mit krummem Rücken.
Das trifft hammerhart
Man ahnt
eine Zukunft
mit Rollator
im Seniorenstift.
Erleichtert
blickt man
auf den Griff
des Einkaufswagens
und ist froh,
dass es nur ein
Hexenschuss ist.
Im Folgenden verwenden wir wieder eine Kombination aus induktivem und hermeneutischem Verfahren.
Induktiv = Zeile für Zeile Verständnis aufbauend
Hermeneutisch = immer wieder wird der aktuelle Verständnisstand korrigiert, nachjustiert.
Unsere Arbeit am Gedicht – was man sich so notiert
Wir haben unsere handschriftliche Bearbeitung hier eingefügt, weil man dort gut sehen kann, wie Teile des Gedichtes, die weit auseinanderstehen, trotzdem zusammengehören.
Zum Beispiel das, was zu den Augen gesagt wird: 02/18
Oder die zweifache Verwendung des „dennoch“ (11/36)
Oder „Herrscherthron“, „Knechte“ und „schüchtern“ (15/17)
Was wir später geändert haben, ist der angebliche Konditionalsatz in der ersten Strophe – später hat sich herausgestellt, dass man das besser temporal versteht.
Und was die Rhythmus-Störung angeht, so müsste bei „Gnade“ eigentlich die erste Silbe betont werden, für den Jambus muss es aber die 2. sein. Das glättet sich aber in der Regel im Vortrag.
Auf jeden Fall können wir nur jeden ermutigen, das induktive und das hermeneutische Verfahren auch so handschriftlich sichtbar zu machen, bevor man mit der Niederschrift der Interpretation beginnt.
Verständnisaufbau – Zeile für Zeile mit Zwischenergebnissen
Annette von Droste-Hülshoff
Das Spiegelbild
Strophe 1: erster Eindruck bei der Begegnung
01 Schaust du mich an aus dem Kristall,
02 Mit deiner Augen Nebelball,
03 Kometen gleich die im Verbleichen;
04 Mit Zügen, worin wunderlich
05 Zwei Seelen wie Spione sich
06 Umschleichen, ja, dann flüstre ich:
07 Phantom, du bist nicht meinesgleichen!
Vierhebiger Jambus, der nur in Zeile 34 vorne etwas gestört ist.
Ausgangspunkt: Anrede an das eigene Spiegelbild im Stil eines Temporalsatzes: „Dann, wenn …“
Vergleich der Augen mit einem „Nebelball“, also unklar, was zur Folgezeile passt: Kometen ziehen schnell vorbei – auch „Verbleichen“ passt dazu.
Dann geht es um die Gesichtszüge, in denen das Lyrische Ich „Zwei Seelen“ zu sehen meint, die sich wie „Spione“ „Umschleichen“.
Die letzten beiden Zeilen präsentieren das Ergebnis dieser Situation, die Feststellung des Unterschiedes, der Nicht-Gleichheit.
Insgesamt 1. Verständnis-Stand: Das Spiegel-Gegenüber wird als zweite Person wahrgenommen, das sich unklar und beunruhigend präsentiert. Am Ende eine Abwehrhaltung.
2. Strophe: Veränderung hin zu halber Aneignung
08 Bist nur entschlüpft der Träume Hut,
09 Zu eisen mir das warme Blut,
10 Die dunkle Locke mir zu blassen;
11 Und dennoch, dämmerndes Gesicht,
12 Drin seltsam spielt ein Doppellicht,
13 Trätest du vor, ich weiß es nicht,
14 Würd‘ ich dich lieben oder hassen?
Das Lyrische Ich verstärkt die distanzierende Abwehr, indem es das Spiegelbild zu einer Art Traum macht.
Es unterstellt ihm eine negative Wirkung („eisen“ und „blassen“).
Dann der „dennoch“-Wechsel: Jetzt erkennt das Lyrische Ich ein ein „dämmerndes“ (Morgendämmerung?) Gesicht und sieht ein „Doppellicht“.
Es folgt ein Konditionalsatz: Wenn dieses scheinbare Phantom auf das Lyrische Ich zugehen würde, weiß es nicht, ob es „lieben oder hassen“ sollte.
Insgesamt 2. Verständnis-Stand:
Das Lyrische Ich schwankt zwischen Abwehr und halber Bereitschaft zur Anerkennung / Aneignung.
3. Strophe: erneute Distanzierung angesichts der kalten Augen
15 Zu deiner Stirne Herrscherthron,
16 Wo die Gedanken leisten Fron
17 Wie Knechte, würd‘ ich schüchtern blicken;
18 Doch von des Auges kaltem Glast,
19 Voll toten Lichts, gebrochen fast,
20 Gespenstig, würd‘, ein scheuer Gast,
21 Weit, weit ich meinen Schemel rücken.
Das Lyrische Ich schaut sich jetzt das Gesicht im Spiegel genauer an.
Es beginnt mit der Stirn als dem Ort des Verstandes – interessant die negative Sicht der „Fron“-Arbeit bei den Gedanken.
Demgegenüber ist seine Haltung „schüchtern“.
Probleme hat es mit dem kalten Glanz der Augen, wo es nur totes Licht sieht. Das ist wieder eine Rückkehr zur Sicht der 1. Strophe.
Am Ende steht erneute Distanzierung aus Angst heraus.
Insgesamt 3. Verständnis-Stand:
Die Eindrücke und das Verhältnis wechseln ständig, hier wieder Ablehnung, vor allem wegen der Augen. Demgegenüber tritt die Verstandeswelt der Stirn zurück.
4. Strophe: Erneuter Wechsel vom Positiven zum Negativen
22 Und was den Mund umspielt so lind,
23 So weich und hülflos wie ein Kind,
24 Das möcht‘ in treue Hut ich bergen;
25 Und wieder, wenn er höhnend spielt,
26 Wie von gespanntem Bogen zielt,
27 Wenn leis‘ es durch die Züge wühlt,
28 Dann möcht‘ ich fliehen wie vor Schergen.
Als nächstes geht es um die Mundpartie, die erst mal positiv wahrgenommen wird, sogar als hilfebedürftig.
Auch hier wieder ein Wechsel ins Höhnische, Aggressive mit entsprechender Reaktion des Lyrischen Ichs.
Insgesamt 4. Verständnis-Stand:
Neu ist der Eindruck der Hilflosigkeit beim Gegenüber, der aber auch wieder ins Gegenteil verkehrt wird. Eindruck ständigen Wechsels.
5. Strophe: Eine Art Vergöttlichung des eigenen Spiegelbildes
29 Es ist gewiss, du bist nicht ich,
30 Ein fremdes Dasein, dem ich mich
31 Wie Moses nahe, unbeschuhet,
32 Voll Kräfte die mir nicht bewusst,
33 Voll fremden Leides, fremder Lust;
34 Gnade mir Gott, wenn in der Brust
35 Mir schlummernd deine Seele ruhet!
Versuch der Selbstvergewisserung der Nicht-Identität
Rückgriff auf eine Stelle aus der Bibel, wo der Prophet Moses sich dem Heiligen ohne Schuhe nähern soll (2. Mose 3, 4-5).
Das Gegenüber wird hier immer größer, heiliger, fast göttlich.
Das Lyrische Ich erkennt dort fremde Erlebnisse positiver und negativer Art, die es nicht in sich selbst entdecken möchte.
Insgesamt 5. Verständnis-Stand:
Zum ständigen Wechsel kommt jetzt eine Art heilige Scheu vor dem eigenen Spiegelbild, in dem das Lyrische Ich vieles ahnt, wovor es Angst hat.
6. Strophe: Wendung ins Positive: Bereitschaft zur Begegnung mit Weinen
36 Und dennoch fühl‘ ich, wie verwandt,
37 Zu deinen Schauern mich gebannt,
38 Und Liebe muss der Furcht sich einen.
39 Ja, trätest aus Kristalles Rund,
40 Phantom, du lebend auf den Grund,
41 Nur leise zittern würd‘ ich, und
42 Mich dünkt – ich würde um dich weinen!
Ein erneutes „dennoch“: Das Lyrische Ich erkennt ein Gefühl der Verwandtschaft an – gerade in den „Schauern“, die es eben erahnt hat.
Es möchte die „Furcht“ mit der „Liebe“ verbinden.
Am Ende ist es sogar zu einer Begegnung mit dem Spiegel-Gegenüber bereit. Dabei wird eine doppelte Reaktion angenommen: Zittern und ein „um dich weinen“. Was dafür der Grund ist, bleibt offen und lässt sich wohl nur auf der Sinn-Ebene erschließen.
Bestimmung der Aussagen des Gedichtes (Intentionalität)
Das Gedicht zeigt:
sehr vielschichtige Eindrücke und Reaktionen bei der Betrachtung des eigenen Spiegelbildes.
Es beginnt mit Unklarheit und Irritation, was zur Ablehnung eines Doppelbildes.
Versuch der Verdrängung in die Traumwelt, was eher in Richtung Albtraum geht.
Dann aber auch erstmals Unklarheit, ob das Lyrische Ich „lieben oder hassen“ muss/kann.
Genauere Betrachtung von der Stirn, über die Augen bis hin zum Mund produziert wieder sehr unterschiedliche Eindrücke, die insgesamt eher negativ sind und beim positiven Ansatz einer gewissen kindlichen Hilflosigkeit gleich wieder ins Negative gewendet werden.
Ab der 5. Strophe wechselt die Sicht auf das Spiegelbild vom Gespenstischen zum Geheimnisvoll-Göttlichen, vor dem man nicht nur negativ erschauert.
Dementsprechend steht am Ende die Bereitschaft, dieses Phantom mit seinen Perspektiven in eine andere Welt der Möglichkeiten anzunehmen, wenn auch zitternd und mit der Bereitschaft zu weinen.
Dieses „weinen“ lässt sich aus dem Gedicht selbst heraus nicht sicher verstehen. Wir verstehen das so, dass das Lyrische Ich über das Spiegelbild auf ganz neue Sichtweisen auf sich selbst und das Leben gekommen ist. Die sind durchaus beunruhigend, werden aber als zum Menschen bzw. zum Leben gehörend angenommen. Und diese tiefen Blicke in eine größere Wirklichkeit können nur mit „zittern“ und „weinen“ ertragen werden. Darunter ist aber keine Trauer zu verstehen, sondern eine tiefe gefühlsmäßige Reaktion. Schließlich kann auch jemand weinen, der gerade tief bewegt ist.
Künstlerische Mittel
Wie immer zählen wir hier nicht einfach auf, was sich alles so finden lässt, sondern versuchen die „strategischen“ Mittel zu finden, die die Wirkung des Gedichtes ausmacht. Da lässt sich folgendes feststellen:
Die direkte Anrede spielt eine Rolle – die wird bis zum Ende durchgezogen. Interessant ist der Verzicht darauf in der 4. Strophe: Das entspricht dem Fluchtgedanken in Zeile 28.
Dann spielt der Konjunktiv eine Rolle (13, 17, 20, 39), was deutlich macht, wie sehr es sich um Kopfgeburten des Lyrischen Ichs handelt.
Bilder des Unklaren („Nebelball“, 2, „Verbleichen“, 03) spielen eine Rolle; außerdem solche der negativen Einwirkung (09, 10) mit der Konnotation des Alterns oder gar des Todes. Dazu auch „dämmerndes Gesicht“, (11). Vergleiche „des Auges kaltem Glast“, „Voll toten Lichts“ (18,19).
Eine wichtige Rolle spielt in diesem Zusammenhang auch das Neben- und Gegeneinander: „zwei Seelen“ (05), „Doppellicht“ (12), „lieber oder hassen“ (14), „Liebe“ und „Furcht“, (38), „Voll fremden Leides, fremder Lust“, (33)
Dann die Anspielung auf die Moses-Geschichte und die damit verbundene Vorstellung vom Heiligen (31), verbunden mit „Schauern“ (37) und „zittern“ (41). Dazu passt auch „Gnade mir Gott“, (34).
Im Folgenden zeigen wir, wie man ein sehr interessantes, aber auch schwieriges Gedicht „knacken“ kann, indem man
mit Hilfe der induktiven Methode nach und nach Verständnis aufbaut
(mit der induktiven Methode ist gemeint, dass man immer vom Text ausgeht und nicht von einer vorgefassten Meinung!)
und
mit Hilfe des sogenannten „hermeneutischen Zirkels“ (wird unten erklärt) immer wieder überprüft, ob der aktuelle Verständnisstand wirklich auch zu den weiteren Signalen des Textes passt.
Kleine Anmerkung: Mit dem „hermeneutischen Zirkel“ ist nichts anderes gemeint, als dass man selbst als die interpretierende Person immer wieder eine Art Kreislauf zum Text hin macht.
Mit dessen Hilfe hat man ein bestimmtes Verständnis erreicht
und das überprüft man, indem man es an anderen Textstellen auf den Prüfstand stellt.
Induktives und hermeneutisches Vorgehen
Das erste Signal des Textes ist die Überschrift. Beim Phönix muss man entweder auf ein gewisses Bildungswesen zurückgreifen oder aber in einem Lexikon nachschlagen. https://de.wikipedia.org/wiki/Ph%C3%B6nix_(Mythologie)
Es geht um einen Vogel aus der Sagenwelt, der immer wieder verbrennt und aus der Asche wieder entsteht.
Jetzt muss man schauen, was das Gedicht damit zu tun hat.
Die erste Zeile des Gedichtes macht dann deutlich, dass es sich
um einen Morgen handelt, den das Lyrische Ich als früh empfindet. Offensichtlich hat es nicht damit gerechnet, als es vielleicht aus dem Schlaf erwacht ist.
Achtung: Hier versuchen wir schon zu verstehen, was da los ist – dabei gehen wir zum Teil über den Text hinaus und müssen dann schauen, ob das auch zum Rest des Gedichtes passt.
Außerdem macht der Satz Sinn, wenn man davon ausgeht, dass das Lyrische Ich aufgewacht ist und jetzt erstmals aus dem Fenster hinausschaut.
Die Zeilen 2 bis 5 nehmen wir als Einheit:
Wir erfahren erstmals etwas über die angeredete Person, nämlich dass sie „scheu“ ist, also zurückhaltend, vorsichtig, vielleicht nicht viel von sich hält.
Dann ist von Fotos die Rede, die das Lyrische Ich am Abend auf die Kommode gelegt hat – und zwar umgedreht, was (Achtung: Verbindung von Signalen) zu „scheu“ passt. Wir verstehen das erst mal so, dass das angeredete Gegenüber offensichtlich diese Bilder nicht sehen wollte.
Den Rest der der ersten Strophe müssen wir wohl mit dem Anfang der zweiten verbinden:
Das Lyrische Ich konzentriert sich jetzt auf den „Nacken“ des anscheinend noch schlafenden Partners – sonst gäbe es ja irgendeine Reaktion von dem.
„wieder da sind“ deutet an, dass jetzt noch mehr kommt – eben durch das Wachsein in den Blick gerät.
Das „lieber“ kann als Anrede verstanden werden, um die Beziehung zu verdeutlichen.
Zweite Strophe:
Anschließend gleitet der Blick weiter auf die Hände und nimmt dort „die blaue ader“ als etwas wahr, was seit „jeher“, also sind sie schon lange zusammen, dort ist.
Im Auge behalten könnte man, dass für diese körperliche Eigentümlichkeit ein Bild aus der Natur verwendet wird.
Dann hört die Betrachtung auf und es setzt die Überlegung ein.
Das Lyrische Ich nimmt die Situation, dass nicht nur sein Partner, sondern auch „alle bilder“, die zum Wachsein gehören, schlafen
und es nicht mehr viel Zeit hat („in den morgen ebben“)
zum Anlass,
Dritte Strophe:
zwei Situationen anzunehmen, die anscheinend normalerweise nicht gegeben sind:
Nämlich „ruhe“
und das „verlorensein“, das oben zu „scheu“ passt und zur Notwendigkeit, bestimmte Fotos umzudrehen.
Das verstehen wir so, dass der Partner des Lyrischen Ichs Probleme hat, mit sich, seinem (vielleicht alten) Körper oder auch mit Bildern, die er in sich trägt.
Das nutzt das Lyrische Ich
um „der flamme gleich die Luft“ zu „verzehren“, also aufzuleben,
diese „stille“ nutzen (wo all die Probleme noch nicht wach sind)
und in sich aufsaugen, um daraus vielleicht Lebensmut zu saugen.
Zusammenfassung der Signale zu Aussagen
Wenn man sich ein vorläufig abschließendes Verständnis erarbeitet hat, versucht man es, zu einer „Intentionalität“ zusammenzufassen.
Gemeint ist damit die Frage, worauf das Gedicht „hinausläuft“, was es zeigt:
Versuchen wir mal, das differenziert, also in mehreren Aussagen zu formulieren.
Am besten setzt man einfach den folgenden Satz (in verschiedenen Varianten) fort:
Das Gedicht zeigt:
eine besondere Situation zwischen zwei Partnern,
in der der wache für kurze Zeit Gelegenheit hat,
das noch schlafende Gegenüber in Ruhe wahrzunehmen
und dabei gewissermaßen aufzuleben,
während es im Wachzustand anscheinend Probleme hat,
„scheu“ ist, sich aber auch vor Fotos und anderen Bildern scheut,
keine Ruhe findet und
sich verloren fühlt.
Künstlerische Unterstützung der Aussagen
Unterstützt werden die Aussagen des Gedichtes durch
durch den Rückgriff auf den Mythos vom Phönix, der genau passt zu dieser besonderen Situation der Ruhe der Nacht und der Probleme beim Wachsein.
Man kann das gegenläufig interpretieren:
Der Schlaf entspricht der Asche, die Auferstehung dann den Problemen des Tages
Oder aber man geht von der Liebe aus, dann ist der Morgen genau der lebende Liebesvogel, während die Probleme des Tages ihn wieder zu Asche werden lassen.
Die Symbole der Fotos und der inneren Bilder, die offensichtlich für das stehen, worunter der Partner leidet.
Die Konzentration auf bestimmte Körperteile, die bei dem schlafenden Menschen für sein Wesen stehen. Möglicherweise deutet die „blaue ader“ auch daraufhin, dass es sich um einen alten Menschen handelt, möglicherweise sogar jemanden, der pflegebedürftig ist. Das ist natürlich eine reine Hypothese.
Dann das in einen Neologismus gefasste Bild „ebben“, das deutlich macht, dass diese Ruhe der Nacht verschwindet wie das zurückgehende Meer.
Der Konjunktiv in der dritten Strophe, der deutlich macht, dass hier viel Fantasie nötig ist, um die Probleme zu vergessen und diesen Moment der Ruhe zu genießen.
Das Bild der Flamme, das erstens zum Phönix passt und ansonsten deutlich macht, dass der Morgen einen intensiven Moment der Ruhe und des Friedens bereithält, der aber eben auch verbraucht wird, aber auch für einige Zeit wieder Leben spendet.
Am Ende die Vorstellung der Verwandlung, was wiederum zum Konjunktiv passt: Dieses Lyrische Ich verfügt über die Fähigkeit, aus einem Fast-Nichts etwas Positives zu machen und daraus Kraft zu gewinnen.
Zu den Grenzen der induktiven Interpretation
Wir haben uns hier um eine Interpretation bemüht, die ganz „naiv“ ist, im positiven Sinne. Also keine besonderen Kenntnisse zur Verfasserin, keine Nutzung anderer Interpretationen – einfach nur „einlassen“ auf den Text, die Worte hin und her wenden und im Rahmen des Möglichen mit Sinn füllen.
Natürlich können wir falsch liegen, aber das macht nichts, solange wir nah am Text geblieben sind.
Wir hoffen, dass wir damit allen Mut gemacht haben, die immer wieder gezwungen werden, sich mit solchen Texten in Prüfungen und Klausuren zu beschäftigen, statt sich wirklich „auf Augenhöhe“ zwischen Text und Interpret in Ruhe damit beschäftigen zu können.
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