Küchenmeister, Nadja, „phönix“

Im Folgenden zeigen wir, wie man ein sehr interessantes, aber auch schwieriges Gedicht „knacken“ kann, indem man

  1. mit Hilfe der induktiven Methode nach und nach Verständnis aufbaut
    (mit der induktiven Methode ist gemeint, dass man immer vom Text ausgeht und nicht von einer vorgefassten Meinung!)
    und
  2. mit Hilfe des sogenannten „hermeneutischen Zirkels“ (wird unten erklärt) immer wieder überprüft, ob der aktuelle Verständnisstand wirklich auch zu den weiteren Signalen des Textes passt.
    Kleine Anmerkung: Mit dem „hermeneutischen Zirkel“ ist nichts anderes gemeint, als dass man selbst als die interpretierende Person immer wieder eine Art Kreislauf zum Text hin macht.
    Mit dessen Hilfe hat man ein bestimmtes Verständnis erreicht
    und das überprüft man, indem man es an anderen Textstellen auf den Prüfstand stellt.

Induktives und hermeneutisches Vorgehen

  1. Das erste Signal des Textes ist die Überschrift. Beim Phönix muss man entweder auf ein gewisses Bildungswesen zurückgreifen oder aber in einem Lexikon nachschlagen.
    https://de.wikipedia.org/wiki/Ph%C3%B6nix_(Mythologie)
    Es geht um einen Vogel aus der Sagenwelt, der immer wieder verbrennt und aus der Asche wieder entsteht.
    Jetzt muss man schauen, was das Gedicht damit zu tun hat.
  2. Die erste Zeile des Gedichtes macht dann deutlich, dass es sich
    1. um einen Morgen handelt, den das Lyrische Ich als früh empfindet. Offensichtlich hat es nicht damit gerechnet, als es vielleicht aus dem Schlaf erwacht ist.
      Achtung: Hier versuchen wir schon zu verstehen, was da los ist – dabei gehen wir zum Teil über den Text hinaus und müssen dann schauen, ob das auch zum Rest des Gedichtes passt.
    2. Außerdem macht der Satz Sinn, wenn man davon ausgeht, dass das Lyrische Ich aufgewacht ist und jetzt erstmals aus dem Fenster hinausschaut.
  3. Die Zeilen 2 bis 5 nehmen wir als Einheit:
    1. Wir erfahren erstmals etwas über die angeredete Person, nämlich dass sie „scheu“ ist, also zurückhaltend, vorsichtig, vielleicht nicht viel von sich hält.
    2. Dann ist von Fotos die Rede, die das Lyrische Ich am Abend auf die Kommode gelegt hat – und zwar umgedreht, was (Achtung: Verbindung von Signalen) zu „scheu“ passt. Wir verstehen das erst mal so, dass das angeredete Gegenüber offensichtlich diese Bilder nicht sehen wollte.
  4. Den Rest der der ersten Strophe müssen wir wohl mit dem Anfang der zweiten verbinden:
    1. Das Lyrische Ich konzentriert sich jetzt auf den „Nacken“ des anscheinend noch schlafenden Partners – sonst gäbe es ja irgendeine Reaktion von dem.
      „wieder da sind“ deutet an, dass jetzt noch mehr kommt – eben durch das Wachsein in den Blick gerät.
    2. Das „lieber“ kann als Anrede verstanden werden, um die Beziehung zu verdeutlichen.
  5. Zweite Strophe:
    1. Anschließend gleitet der Blick weiter auf die Hände und nimmt dort „die blaue ader“ als etwas wahr, was seit „jeher“, also sind sie schon lange zusammen, dort ist.
    2. Im Auge behalten könnte man, dass für diese körperliche Eigentümlichkeit ein Bild aus der Natur verwendet wird.
  6. Dann hört die Betrachtung auf und es setzt die Überlegung ein.
    1. Das Lyrische Ich nimmt die Situation, dass nicht nur sein Partner, sondern auch „alle bilder“, die zum Wachsein gehören, schlafen
    2. und es nicht mehr viel Zeit hat („in den morgen ebben“)
    3. zum Anlass,
  7. Dritte Strophe:
    1. zwei Situationen anzunehmen, die anscheinend normalerweise nicht gegeben sind:
      1. Nämlich „ruhe“
      2. und das „verlorensein“, das oben zu „scheu“ passt und zur Notwendigkeit, bestimmte Fotos umzudrehen.
      3. Das verstehen wir so, dass der Partner des Lyrischen Ichs Probleme hat, mit sich, seinem (vielleicht alten) Körper oder auch mit Bildern, die er in sich trägt.
      4. Das nutzt das Lyrische Ich
        1. um „der flamme gleich die Luft“ zu „verzehren“, also aufzuleben,
        2. diese „stille“ nutzen (wo all die Probleme noch nicht wach sind)
        3. und in sich aufsaugen, um daraus vielleicht Lebensmut zu saugen.

Zusammenfassung der Signale zu Aussagen

Wenn man sich ein vorläufig abschließendes Verständnis erarbeitet hat, versucht man es, zu einer „Intentionalität“ zusammenzufassen.
Gemeint ist damit die Frage, worauf das Gedicht „hinausläuft“, was es zeigt:
Versuchen wir mal, das differenziert, also in mehreren Aussagen zu formulieren.
Am besten setzt man einfach den folgenden Satz (in verschiedenen Varianten) fort:

Das Gedicht zeigt:

  1. eine besondere Situation zwischen zwei Partnern,
  2. in der der wache für kurze Zeit Gelegenheit hat,
  3. das noch schlafende Gegenüber in Ruhe wahrzunehmen
  4. und dabei gewissermaßen aufzuleben,
  5. während es im Wachzustand anscheinend Probleme hat,
  6. „scheu“ ist, sich aber auch vor Fotos und anderen Bildern scheut,
  7. keine Ruhe findet und
  8. sich verloren fühlt.

Künstlerische Unterstützung der Aussagen

Unterstützt werden die Aussagen des Gedichtes durch

  1. durch den Rückgriff auf den Mythos vom Phönix, der genau passt zu dieser besonderen Situation der Ruhe der Nacht und der Probleme beim Wachsein.
    Man kann das gegenläufig interpretieren:

    1. Der Schlaf entspricht der Asche, die Auferstehung dann den Problemen des Tages
    2. Oder aber man geht von der Liebe aus, dann ist der Morgen genau der lebende Liebesvogel, während die Probleme des Tages ihn wieder zu Asche werden lassen.
  2. Die Symbole der Fotos und der inneren Bilder, die offensichtlich für das stehen, worunter der Partner leidet.
  3. Die Konzentration auf bestimmte Körperteile, die bei dem schlafenden Menschen für sein Wesen stehen. Möglicherweise deutet die „blaue ader“ auch daraufhin, dass es sich um einen alten Menschen handelt, möglicherweise sogar jemanden, der pflegebedürftig ist. Das ist natürlich eine reine Hypothese.
  4. Dann das in einen Neologismus gefasste Bild „ebben“, das deutlich macht, dass diese Ruhe der Nacht verschwindet wie das zurückgehende Meer.
  5. Der Konjunktiv in der dritten Strophe, der deutlich macht, dass hier viel Fantasie nötig ist, um die Probleme zu vergessen und diesen Moment der Ruhe zu genießen.
  6. Das Bild der Flamme, das erstens zum Phönix passt und ansonsten deutlich macht, dass der Morgen einen intensiven Moment der Ruhe und des Friedens bereithält, der aber eben auch verbraucht wird, aber auch für einige Zeit wieder Leben spendet.
  7. Am Ende die Vorstellung der Verwandlung, was wiederum zum Konjunktiv passt: Dieses Lyrische Ich verfügt über die Fähigkeit, aus einem Fast-Nichts etwas Positives zu machen und daraus Kraft zu gewinnen.

Zu den Grenzen der induktiven Interpretation

Wir haben uns hier um eine Interpretation bemüht, die ganz „naiv“ ist, im positiven Sinne. Also keine besonderen Kenntnisse zur Verfasserin, keine Nutzung anderer Interpretationen – einfach nur „einlassen“ auf den Text, die Worte hin und her wenden und im Rahmen des Möglichen mit Sinn füllen.

Natürlich können wir falsch liegen, aber das macht nichts, solange wir nah am Text geblieben sind.

Wir hoffen, dass wir damit allen Mut gemacht haben, die immer wieder gezwungen werden, sich mit solchen Texten in Prüfungen und Klausuren zu beschäftigen, statt sich wirklich „auf Augenhöhe“ zwischen Text und Interpret in Ruhe damit beschäftigen zu können.

Weiterführende Hinweise