Wenn die Lust zur Beurteilung wächst …
Wenn man auf ein Gedicht stößt und nicht gleich versteht, worauf es hinausläuft, dann wird es spannend. Denn dann geht es nicht mehr nur darum, dem Deutschlehrer eine Freude zu machen. Sondern es geht um die eigene Beziehung zu dem Text. Dennoch sollte man auch nicht gleich subjektiv an den Text herangehen, sondern erst mal sachlich klären, was das Gedicht hergibt. Erst danach versucht man sich in einer Beurteilung, die vielleicht auch andere nachvollziehen können.
Beispiel-Check eines Gedichtes
Wir spielen das mal durch am Beispiel des Gedichtes „Abend in den Gassen“ von Anke Maggauer-Kirsche, Zu finden ist es hier.
- „Abend in den Gassen“
Die Überschrift gibt nur den Ort und die Tageszeit an. Es bleibt offen, in welche Richtung das gehen wird. - Es folgen zwei Beschreibungselemente, die deutlich machen, in welche Richtung die Titelangabe sich entwickelt.
Zum einen ist da die Bewegung des Lichts in Schaffenform an den Wänden, wohl der Häuser.
Zum anderen wird das Licht charakterisiert als „der sanfte Glanz“. Das wird verbunden mit „des Alters“ und das Nachfolgende lässt vermuten, dass es sich um Steine handelt, die zu den Gebäuden u.ä. gehören.
Wichtig sind die Begriffe „sanfte“ und „weich“, weil sie die Richtung verdeutlichen, in welche dieser Abendeindruck geht. - Die nächste Strophe verstärkt dann den Eindruck, dass es sich um eine alte Stadt handelt, man meint hier Ankänge an die Romantik zu spüren, wenn auch das Geburtsdatum der Verfasserin 1948 deutlich macht, dass das nichts mit Eichendorff und Co zu tun hat.
„golden“ passt dann wieder zu dieser schönen Atmosphäre.
Dass das Abendlicht „die Schatten / von den Wänden“ streift, muss erste mal nachvollzogen werden. So richtig passt das nicht, denn die Schatten werden ja am Abend eher größer – das scheint hier lokal aber wohl anders zu sein. - Dass sich die Gassen dann „verwischen“, hängt sicher mit der zunehmenden Dämmerung zusammen. Das führt auch wohl dazu, dass das Lyrische Ich das als „sanfter“ empfindet. Die scharfen Konturen verschwinden.
Die Schlusspassage gehört dann – auch nahe an Eichendorff – der Mond, der allerdings als „träger“ vorgestellt wird, vielleicht hängt es mit Müdigkeit zusammen. Die anschließende Kombination von „steil“ und „langsam“ überzeugt aber nicht so ganz, denn das Steile verbindet man eher mit Dynamik. Man muss ja auch die Bahn des Mondes sehen.
Dass „träge“ auch noch mit einem „trüben Abendhimmel“ verbunden wird, zerstört die vorher aufgebaute Stimmung und lässt unser Leserurteil eher ins Negative kippen.
Beurteilungsaspekte
- Wir haben uns wirklich bemüht, das Gedicht gut zu finden.
- Aber irgendwie haben wir die ganze Zeit drauf gewartet, dass da noch irgendwas kommt.
- Aber am Ende kommt nicht nur irgendwie nichts Besonderes, sondern man hat auch den Eindruck einer ziemlichen Beliebigkeit.
- Am Anfang war da doch noch „der sanfte Glanz / des Alters“ und „golden“ fiel „das letzte Abendlicht“ ein. Und auch sanfter erschienen schließlich die Gassen. Aber dann der Absturz der Kombination von „steil und langsam“ beim Mond. Das geht – wie wir schon gezeigt haben, gar nicht.
- Und dann kombiniert die Verfasserin auch noch einen „trüben Abendhimmel“ (wodurch ist der das plötzlich geworden?) mit einem „Mond“, der als „träger“ präsentiert wird. Was soll das Ganze?
- Insgesamt kann man dieses Gedicht sehr schön verwenden, um die Reaktion von Lesern oder Hörern zu testen. Wir sind eher enttäuscht, haben das Gefühl, da wollte jemand ein Gedicht schreiben, hat sich hingesetzt und alles verwendet, was gerade zu sehen war oder was ihm dazu einfiel. Das kann man machen – aber wir stellen hier höhere Ansprüche an ein Gedicht, wollen keine Beliebigkeit, sondern das Ergebnis einer Auseinandersetzung mit dem, worum es geht.
- Aber das kann man auch völlig anders sehen – und dann wird es spannend.
Idee für Vergleichsmöglichkeiten
Man könnte das Gedicht vergleichen mit Eichendorffs „Weihnachten“. Dabei geht es nicht darum, das inhaltlich gut zu finden. Aber man bekommt einen Eindruck davon, dass ein Gedicht eine Spannung enthalten kann, die auf etwas zuläuft.
Joseph von Eichendorff
Weihnachten
Markt und Straßen stehn verlassen,
Still erleuchtet jedes Haus,
Sinnend geh ich durch die Gassen,
Alles sieht so festlich aus.
- Auch hier erst eine Beschreibung und dann der Eindruck, den das auf das Lyrische Ich macht – mit dem Akzent auf „festlich“.An den Fenstern haben Frauen
Buntes Spielzeug fromm geschmückt,
Tausend Kindlein stehn und schauen,
Sind so wunderstill beglückt. - Hier noch mehr Details und die Wirkung auf die Kinder mit dem Schwerpunkt „beglückt“.Und ich wandre aus den Mauern
Bis hinaus ins freie Feld,
Hehres Glänzen, heil’ges Schauern!
Wie so weit und still die Welt! - Jetzt eine Ortsveränderung „ins freie Feld“ hinein mit Hinweisen auf die tiefe Wirkung, die das auf das Lyrische Ich hat. Am Ende die Feststellung einer Welt, die „weit und still“ ist – ein Kontrast (zumindest teilweise) zu dem, was vorher beschrieben wurde.Sterne hoch die Kreise schlingen,
Aus des Schnees Einsamkeit
Steigt’s wie wunderbares Singen –
O du gnadenreiche Zeit! - Dann der Blick nach oben und eine Art Vision, die das Lyrische Ich hat, die zu einem Erlebnis von Weihnachten führt, das aus der Natur herauswächst, aber alles einschließt, was zu dieser besonderen Zeit des Jahres gehört.
- Auf diese „gnadenreiche“ Zeit läuft alles hinaus – damit kann man als Leser gut leben, auch wenn man selbst mit Weihnachten vielleicht andere Dinge verbindet.
Weiterführende Hinweise
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