Gedichtanalyse: „Thema“ – „Deutungshypothese“: Was ist der Unterschied?

„Thema“ – „Deutung“: Wo ist das Problem?

Im Deutschunterricht hat es sich eingebürgert, dass man bei der Analyse eines Gedichtes zwei Dinge relativ früh nennt:

  1. Thema
  2. Deutungshypothese

Der Unterschied ist ganz einfach:

  1. Das Thema ist immer eine Fragestellung oder eine Problemstellung.
  2. Die Deutungshypothese ist eine Vermutung, wie die Antwort lauten oder die Lösung aussehen könnte.

Wie bekommt man beides heraus?

Das Problem ist, dass die Einleitung in eine Gedichtinterpretation relativ leicht zu schreiben ist:

  1. Art des Textes, ggf. nicht nur Gedicht, sondern Naturgedicht, politisches Gedicht oder auch Sonett u.ä.
  2. Verfasser
  3. Titel
  4. eventuell Entstehungszeit
  5. ggf. auch Ort der Veröffentlichung

Dann aber ist Schluss mit den einfachen Dingen.

Denn um Thema und Deutungshypothese bestimmen zu können, muss man das Gedicht verstanden haben. Also erst mal Analyse, dann die Einleitung zu Ende schreiben.

Am besten lässt man vorne einfach die beiden Punkte erst mal frei.

Beispiel: Gedicht „Balkons in der Vorstadt“ von Ernst Lissauer (1882-1937)

 

Ernst Lissauer

Balkons in der Vorstadt

  • Zwei Infos: Es geht um eine Vorstadt, vielleicht schon nah an der Umgebung, nicht mehr so eng
  • Und es geht um Balkons, also die Teile der Häuser, auf denen man sich erholen und die man gestalten kann.
  • Das ist aber nicht das Thema, sondern wahrscheinlich der Gegenstand, das Objekt des Gedichtes. Wir suchen die Fragestellung, die zum Gedicht passt.Stuben an Stuben, langhin aneinandergestaut,
    Stockwerk auf Stockwerk getürmt, Wolken und Sterne verbaut,
    Weithin Stein und Asphalt —
    Wächst irgendwo Weizen und Wald?
    Dunst, Rauch, Staub —
    Rauscht irgendwo Welle und Laub?
  • Hinweis auf Enge
  • Trennung von der Natur, der Weite
  • Hervorhebung des Materials, das die Natur ersetzt
  • Dann die zweifache Frage nach dem, was eigentlich auch zum Leben gehört
  • Erste Vermutung: Thema: „Wie ist das Leben in der Vorstadt – wenn man da (wenigstens) einen Balkon hat?“
  • Erste Vermutung der Antwort: „Das Leben dort ist negativ, eng und naturfern.“Nie von starkem Leuchten besonnt,
    Wie gemauerter Nebel starrt die unendliche Front.
  • Hinweis auf ein Defizit
  • Unangenehmes Bild für das Negative der UmgebungDoch an jedem Haus, jedem Geschoss, immer zu zweit,
    Balköne, schwebende Zimmer, hangen
    ln langen
    Fluchten zur Rechten und Linken die Straße hinuntergereiht;
    Aus Wein und aus Efeu geflochten Wände aus Grün,
    Irdene Töpfe, drin rote Geranien und Fuchsien blühn,
    Stücke Wiese und Wuchs, verwehte, verstreute, —
    Land der landlosen Leute.
  • „Doch“ = entscheidend, weil jetzt was Neues kommt
  • Die Balkons bekommen plötzlich eine positive Bedeutung, was wir am Anfang schon vermutet haben.
  • Die „langen Fluchten“ der Häuser nicht mehr negativ,
  • sondern sie präsentieren Gestaltung.
  • Und zwar ein bisschen Natur, von dem man sonst entfernt ist.
  • Und dann der wunderbare Schluss, der im Negativen der Landlosigkeit doch die Chance sieht, sich ein bisschen Land und Natur in die Wohnung zu holen.

Klärung der beiden Aspekte bei diesem Gedicht

  1. Thema ist jetzt immer noch das Leben der Menschen in Vorstädten.
  2. Die Antwort aber hat sich verändert: Es geht jetzt nicht mehr nur darum zu zeigen, wie schlimm es in diesen Großstädten war, sondern der Akzent hat sich verschoben zu dem, was die Menschen daraus für sich doch gemacht haben.

Über die Analyse hinaus:

  1. Es spricht einiges dafür, dass dieses Gedicht zum Expressionismus gehört, weil ein typisches Thema dieser Epoche auftaucht, nämlich die Enge und Naturferne des Großstadtlebens.
  2. Interessant und eher ungewöhnlich ist der ungewöhnliche Ausklang: Nicht mehr in erster Linie Sozialkritik, sondern bewundernde oder zumindest anerkennende Bewertung dessen, was Menschen unter diesen Umständen hier leisten.
  3. Diskutieren kann man sicher die Frage, ob das Gedicht nicht systemstabilisierend ist – nach dem Motto: Wie immer es aussieht, du kannst daraus was machen. Ist also alles nicht so schlimm.
  4. Man kann es aber auch positiv sehen: Wir wollen größere und schönere Wohnungen für möglichst alle Menschen – mit einem Garten und guter Anbindung an die Natur. Aber auf dem Weg dahin müssen wir nicht warten, sondern können uns schon „Land“ als „Landlose“ schaffen.

Zum Video und zur Dokumentation

Das Video zu dieser Frage findet sich auf Youtube hier:

Die Dokumentation kann hier heruntergeladen werden:
Mat1592 VidBegl Gedichtanalyse – Unterschied Thema und Deutungshypothese

Weiterführende Hinweise

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