Im Folgenden geht es um ein besonderes „Reisegedicht“ aus dem 14. Jahrhundert, das uns in der Übersetzung eines deutschen Dichters aus dem 19. Jhdt vorliegt.
Zu finden ist das Gedicht zum Beispiel auf der Seite:
https://www.gedichte-fuer-alle-faelle.de/allegedichte/gedicht_1692.html
Muhammad Schams ad-Din Hafis
Reiseziel
Nun ist das Leben an seinem Ziel
Und ohne Zweck war die Reise.
O Jüngling, rühre das Saitenspiel,
Schon morgen wirst du zum Greise.
- Das Gedicht beginnt mit einer Art Klage des Lyrischen Ichs, das sich das Ende einer Lebensreise vorstellt, die zwar „an seinem Ziel“ angelangt ist, aber es „ohne Zweck“ erreicht hat.
- Es hat also offensichtlich ein größerer Kontext, eine Aufgabe gefehlt.
- Als einzige Möglichkeit wird noch gesehen, Musik zu machen, denn schon am folgenden Tag, also in kurzer Zeit wird man „zum Greise“.
- Hier ist nicht ganz klar, welche Kommunikationssituation vorliegt. Am meisten überzeugt wohl ein Verständnis, bei dem das Lyrische Ich an sein Ende denkt und vor diesem Hintergrund einem jungen Menschen den Rat gibt, sich mit Musik das Leben angenehmer zu gestalten, denn das traurige Ende nahe schnell.
Das lecke Schiff und der morsche Kiel
In Meeren ohne Geleise,
Der Winde Ball und der Wellen Spiel
Unnütz gewirbelt im Kreise.
- Die zweite Strophe präsentiert das Bild eines Schiffes,
- das zunächst schon mal als seeuntüchtig vorgestellt wird
- und dann auch noch in schweres Wetter gerät.
- Interessant auch hier, dass wieder von „unnütz“ die Rede ist, was zu dem fehlenden Zweck aus der ersten Strophe passt.
So viel gehofft und gewünscht so viel,
Getäuscht in jeglicher Weise,
Hindurch durchs ewige Widerspiel
Gequält von Glut und von Eise.
- Die dritte Strophe konzentriert sich auf den Gegensatz zwischen den Hoffnungen und Wünschen und der Realität, bei der sich alles als Täuschung herausgestellt hat.
- Das Leben wird verstanden als ein ständiges Hin und Her, bei dem der Mensch nur ein Spielball ist und sich dabei „gequält“ fühlt.
Nun sinkt die Rose auf mattem Stiel,
Die Blätter fallen vom Reise.
Nun ist das Leben an seinem Ziel
Und ohne Zweck war die Reise.
- Die letzte Strophe nimmt dann noch mal den Ausgangspunkt wieder auf.
- Der Mensch am Ende seines Lebens wird als Rose angesehen, deren Lebenszeit auch zu Ende geht und die ihre Blätter, also die Zeichen der Lebenskraft verliert.
- Dann werden die Eingangszeilen wiederholt, was die Sinnlosigkeit unterstreicht.
- Man hat den Eindruck, dass das Lyrische Ich damit signalisiert, es hätte sich alles dazwischen eigentlich auch sparen können.
(aus dem Persischen von Friedrich Rückert)
Zusammenfassung und kreativer Ausblick
Insgesamt wirkt das Gedicht sehr negativ, geht in keiner Weise auf Dinge ein, die ein Leben lebenswert machen – von der Schönheit der Natur bis zum Geheimnis der Liebe.
Vor diesem Hintergrund „schreit“ dieses Gedicht regelrecht nach einem Gegengedicht.
Man könnte zum Beispiel folgenden Ansatz versuchen:
Reiseweg
Wer stets nur ans Ziel denkt
des Lebens, den Tod,
wird blind für das Schöne
am Rand aller Wege,
die gehen man darf.
Aber auch Schatten
sind nützlich, sorgen für
Einhalt und schaffen
Erfahrung – sind Triebkraft
des Wachstums – man lernt
nur durch Schmerz.
Und wenn dann das Ende
der Reise sich naht.
Wohl dem, dessen Rückblick
voll Welt ist und Zweck.
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Weiterführende Hinweise
- Weitere Beispiele für erfolgreiches Verstehen von Gedichten finden sich hier.
- Weitere Beispiel für Gedichte zum Thema „Reisen“, „Unterwegssein“ oder auch „Fremdsein“: hier
- Ein alphabetisches Gesamtverzeichnis unserer Infos und Materialien gibt es hier.
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