Rilke, „Spaziergang“ – Beispiel für die Suche nach dem Thema

Suche nach dem Thema und der Aussage

An dem folgenden Gedicht kann man sehr gut üben, wie sich Zeile für Zeile ein immer besseres Verständnis aufbaut.

Dabei wird dann auch klar, was das Thema, also eigentlich die Fragestellung des Gedichtes ist, also das, worüber das Lyrische Ich gewissermaßen gestolpert ist.

Und wo eine Frage ist, wünscht man sich auch eine Antwort, das wäre dann die „Aussage“, auf die das Gedicht zuläuft.

Beispiel: Rilke, „Spaziergang“ – Zeile für Zeile

Rainer Maria Rilke

Spaziergang

Schon ist mein Blick am Hügel, dem besonnten,
dem Wege, den ich kaum begann, voran.
So fasst uns das, was wir nicht fassen konnten,
voller Erscheinung, aus der Ferne an—

  • Das Gedicht beginnt mit einer besonderen Situation, die das Lyrische Ich bei sich feststellt. Es ist offensichtlich auf einer Wanderung und nimmt schon einen sonnenbeschienenen Hügel in den Blick, obwohl der noch recht weit vor ihm liegt.
  • Das Erstaunen des Lyrischen Ichs gehört diesem scheinbaren Missverhältnis, dass der Blick sich schon mehr auf das Ziel konzentriert als auf den Weg dahin.
  • Die beiden letzten Zeilen der Strophe macht dann aus der konkreten Erfahrung etwas Allgemeines:
  • Das Lyrische Ich denkt an Situationen, in denen wir von etwas, was wir „nicht fassen“ können,  erstaunlicherweise angefasst werden. Das Lyrische Ich fühlt sich also hier der Einwirkung des Ziels ausgesetzt, während man normalerweise ja andersherum denkt, man fasst nämlich gewöhnlich das Ziel ins Auge und nicht umgekehrt.
  • Hier muss man noch etwas genauer sein: In den ersten beiden Zeilen geht der Blick ja vom Lyrischen Ich zum Hügel. In der allgemeinen Reflexion wird das dann aber so interpretiert, dass der Hügel das gewissermaßen erst ausgelöst hat.

und wandelt uns, auch wenn wirs nicht erreichen,
in jenes, das wir, kaum es ahnend, sind;
ein Zeichen weht, erwidernd unserm Zeichen . . .
Wir aber spüren nur den Gegenwind.

  • Die zweite Strophe wird dann eng an die erste angeschlossen und erweitert noch das Wirkungspotenzial dessen, was erst mal außerhalb unserer Reichweite liegt.
  • Das Lyrische Ich behauptet doch tatsächlich, dass das, was wir nicht erreichen, sondern nur auf uns wirken lassen können, uns auch noch verwandelt.
  • Und dann wird es noch interessanter: Das Unerreichbare, aber uns Ansprechende verwandelt uns in etwas, was wir angeblich schon sind.
  • Auf den Hügel wollen wir das mal lieber nicht beziehen – der war nur der Ausgangspunkt der Reflexion.
  • Aber es lohnt sich schon, hier kurz zu versuchen, sich eine Situation vorzustellen, in der das gelten könnte, was Rilke das Lyrische Ich sagen lässt.
  • Nehmen wir eine Fußballmannschaft, die kurz vor der Meisterschaft steht. Sie hat sie noch nicht, aber sie wirkt schon auf sie ein. Und wenn es gut läuft, dann gibt die Zielvorstellung dem Team so viel Selbstvertrauen, dass es im Spiel schon Meister ist, weil es meisterlich spielt.
  • Die letzten beiden Zeilen versuchen das Gedanken- und Gefühlsexperiment jetzt in eine Formel zu bringen:
    • Ausgangspunkt ist das eigene Zeichen in Richtung Ziel.
    • Von dort „weht“ ein Zeichen zu uns zurück.
  • Und dann ein neuer Aspekt, nämlich die überraschende These, dass man in der Situation „nur den Gegenwind“ spürt.
  • Wie ist das denn nun zu verstehen?
    • Hier kann man von der Hügelwanderung ausgehen. Da ist das leicht zu verstehen – es gibt bereits einen Austausch zwischen dem Wanderer und seinem Ziel, aber er spürt vor allem erst mal den – möglicherweise beschwerlichen – Anstieg.
    • Wie ist das bei unserem Beispiel einer Fußballmannschaft: Sie muss natürlich auch im besten Falle eines schon meisterlichen Auftritts trotzdem am Ball bleiben, darf sich nicht zu sicher fühlen.
    • Wir stellen also fest, dass man die Überlegungen des Gedichts nachvollziehen kann.

Versuch einer Bestimmung von Thema und Aussage

  • Bleibt die Frage, was denn nun eigentlich das Thema und was die Aussage des Gedichtes ist.
  • Das Thema ist der innere Umgang mit dem Verhältnis von eigener aktueller Position und angestrebtem (höheren) Ziel.
  • Die Aussage ist, wie eben schon angedeutet, dass
    • man als erstes mit dem Ziel (Blick-)Kontakt aufnimmt,
    • dass das Ziel gewissermaßen antwortet
    • und mit einem selbst etwas macht – und zwar in Richtung Zielgefühl,
    • dass aber unabhängig davon im Vordergrund erst mal noch der „Gegenwind“ steht.
  • Und abschließend kann man wirklich nur den Rat geben, das im eigenen Leben mal auszuprobieren. Denn es gibt viele Situationen, in denen man ein Ziel ins Auge fasst – und das macht dann was mit einem – und dennoch bleibt da eine Realität, die einem noch einige Mühe machen oder sogar Hindernisse in den Weg legen kann.
  • Entscheidend ist, dass man in einer solchen Situation sich schon mal im Ziel gefühlt hat, ohne – fügen wir jetzt warnend hinzu – dabei übermütig zu werden.

Weiterführende Hinweise

  • Weitere Beispiele für erfolgreiches Verstehen von Gedichten finden sich hier.
  • Ein alphabetisches Gesamtverzeichnis unserer Infos und Materialien gibt es hier.
  • Eine Übersicht über unsere Videos auf Youtube gibt es hier.