Wondratschek, Wolf, „endstation -von gegenwartsgrade“

Zu dem Gedicht von Wolf Wondratschek

Im folgenden geht es um ein Gedicht, das für die Zeit der neuen Subjektivität in den 70er Jahren steht. Darauf gehen wir noch genauer unten ein.

Hier zunächst einmal eine Erläuterung des Inhalts.

Überschrift(en)

  • Das Gedicht beginnt mit dem Hinweis auf einen bestimmten Ort, den jeder aus dem Bereich von Bus und Bahn kennt, nämlich die letzte Haltestelle, an der alle noch anwesenden Fahrgäste normalerweise aussteigen.
  • Der Begriff kann aber auch im übertragenen Sinne gemeint sein, etwa wenn jemand in der Beziehung nicht mehr weiter weiß oder das Ende seiner beruflichen Karriere erreicht hat.
  • Auf den seltsamen Untertitel „von gegenwartsgerade“ gehen wir am Ende noch kurz ein.

Zeile 1 und 2

01 Ich stand an der Bushaltestelle
02 und wartete;

  • Das Lyrische Ich macht hier deutlich, dass es sich tatsächlich im Bereich einer Bushaltestelle befindet und wartet – sicher auf einen Bus.

Zeile 3 und 4

03 und als der Bus kam, stieg ich ein
04 und wartete wieder.

  • Das Interessante ist dann, dass das Lyrische Ich in den Bus einsteigt und weiter wartet.
  • Hier merkt man, dass es sich hier um etwas Übergeordnetes, Allgemeines handeln muss – vielleicht wartet es auf eine Eingebung, einen guten Gedanken – oder auch einfach einen glücklichen Zufall.

Zeile 5-8

05 Vor mich kümmerte sich ein Mädchen um ihren Kerl
06 und weil ich nichts zu tun hatte, schaute ich zu
07 wie sie an seinem Hals hing und manchmal nach hinten
08 schaute zu mir, der nach vorne schaute zu ihr.

  • Tatsächlich passiert dann etwas, denn aus dem reinen Warten wird eine Verlegenheitshandlung, nämlich das Lyrische Ich, das jetzt schnell als männliche Person deutlich wird, schaut einem Mädchen zu, das sich „um ihren Kerl“ „kümmerte“. Eine etwas seltsame Formulierung – aber sie bezeichnet wohl das, was dem Lyrischen Ich fehlt, nämlich Interesse und körperliche Annäherung.
  • Auch interessant ist, dass sich das Mädchen bei seinen partnerschaftlichen Aktivitäten durchaus noch für das Lyrische Ich interessiert – es wird aber nicht deutlich, warum. Möglich wäre, dass das Mädchen nicht ausgelastet ist, genauso kann es aber eine Reaktion sein, wenn man angestarrt wird.
  • Das „manchmal“ deutet aber eher in die Richtung, dass das Mädchen noch Kapazitäten frei hat, sonst würde es sich das ständige Hinschauen verbitten.

Zeile 9-11

09 Ich stand im Bus,
10 schaukelte mit den Beinen die Straße aus
11 und dachte an garnichts;

  • In Zeile 9 geht das Lyrische Ich näher auf seine Situation ein – entweder hat es immer gestanden – oder es ist aufgestanden.
  • Auf jeden Fall wird dem Lyrischen Ich bewusst oder es erzeugt bzw. verstärkt diese Körperreaktion erst, dass seine Beine dem Rhythmus der Auswirkung der Straße auf den Bus folgen.
  • Auf jeden Fall ist das Lyrische Ich in einer Art Trance-Zustand, bei dem es nicht mehr klar denkt, sondern sich ganz seinem Körpergefühl hingibt.

Zeile 12-15

12 irgendwann stieg ich aus, ging nachhause
13 und dachte
14 „Es gibt nichts, was einen Mann einsamer macht
15 als das leise Lachen am Ohr eines andern.“

  • Dazu passt auch, dass das Lyrische Ich gar nicht genau weiß oder angeben mag, wo es ausgestiegen ist.
  • Dann wird deutlich, was sein Problem ist, nämlich Einsamkeit – und die ist ihm besonders bewusst geworden, als es „das leise Lachen“ des Mädchens „am Ohr eines anderen“ mitbekommen hat. Das letzte Wort macht dabei deutlich, was das Lyrische Ich dabei vor allem beschäftigt und eben einsam gemacht hat.

Intentionalität und literaturhistorische Einordnung

Insgesamt zeigt das Gedicht sehr schön die Einsamkeit eines Menschen, die ihm noch mehr bewusst wird, als er auch nur etwas von der Intimität und Gemeinsamkeit zweier anderer Menschen mitbekommt.

Zur „neuen Subjektivität“, wie sie von Marcel Reich-Ranicki für die 70er Jahre festgestellt worden ist, gehört das Gedicht insofern, als das Lyrische Ich sich ganz auf seine Befindlichkeit konzentriert – all das, was vor allem im Bereich der politischen Lyrik in den Jahren davor im Mittelpunkt stand, wird ausgeblendet. Es geht hier nur um private Dinge – und auch noch um eine gewisse Passivität.

Von hieraus versuchen wir jetzt noch mal auf den seltsamen Untertitel „von gegenwartsgerade“ einzugehen. Wir verzichten darauf, hier irgendwelche biografischen oder literaturhistorischen Erklärungen heranzuziehen, weil das nicht zum Gedicht als selbstständigem fiktionalen Text gehört.

Wir verstehen den Neologismus so, dass sich das Lyrische Ich ganz auf seine Gegenwart konzentriert und dabei „gerade“ bleibt – d.h. auf seinem Weg – ohne die Idee, dass man davon auch abweichen könnte. Jeder, der mal einsam gewesen ist oder jemanden in der Situation kennt, weiß, wie sehr man seine Einsamkeit verringern kann, wenn man auf andere Leute zugeht. Ob das hier angemessen gewesen wäre, sei dahingestellt – aber vielleicht war dieses Mädchen ja absprungbereit – oder er wartet eben auf eine günstigere Chance.

Weiterführende Hinweise

  • Weitere Beispiele für die „sichere“ Interpretation von Gedichten finden sich hier.
  • Ein alphabetisches Gesamtverzeichnis unserer Infos und Materialien gibt es hier.
  • Eine Übersicht über unsere Videos auf Youtube gibt es hier.