Lust auf „Wilhelm Tell“ – Fall 2: Eine Frau erklärt ihrem Mann die Welt

Schiller und sein positives Frauenbild

  1. Friedrich Schiller wird vor allem wegen  des Gedichts „Lied von der Glocke“ mit einem recht altertümlichen Frauenbild verbunden.
  2. Umso schöner, dass in „Wilhelm Tell“ gleich in der 2. Szene eine Frau auftaucht, die viel tiefer in die Dinge hineinschaut als ihr Mann.

Die Hör-Datei

Wer nicht so viel lesen möchte, kann sich das, was wir hier präsentieren, einfach „auf die Ohren legen“. Und wenn das für die Schule wichtig ist, kann man auch die angegebenen Stellen direkt in der eigenen Textausgabe markieren.

 

  1. Der, ein Herr Stauffacher, ist ganz verzweifelt, weil der Vertreter des Kaisers ein Auge auf sein Haus geworfen hat und es ihm anscheinend wegnehmen will (234):

    „Ich bin Regent im Land an Kaisers Statt
    Und will nicht, daß der Bauer Häuser baue
    Auf seine eigne Hand, und also frei
    Hinleb, als ob er Herr wär in dem Lande,
    Ich werd mich unterstehn, Euch das zu wehren.“

  2. Seine Frau Gertrud tut dann zwei Dinge: Zum einen erklärt sie ihrem Mann erst mal, warum dieser Beamte so scharf auf sein Haus ist (260):

    „Er ist dir neidisch, weil du glücklich wohnst,
    Ein freier Mann auf deinem eignen Erb,
    – Denn er hat keins. […
    Er ist ein jüngrer Sohn nur seines Hauses,
    Nichts nennt er sein als seinen Rittermantel,
    Drum sieht er jedes Biedermannes Glück
    Mit scheelen Augen giftger Mißgunst an.“

  3. Und dann verbindet sie ihre kluge Sicht der Dinge mit einem Ratschlag (271):
    „Dir hat er längst den Untergang geschworen –
    Noch stehst du unversehrt – Willst du erwarten,
    Bis er die böse Lust an dir gebüßt?
    Der kluge Mann baut vor.“

  4. Und das tut Stauffacher dann auch, er verbündet sich mit anderen klugen Schweizern und wird zu einer wichtigen Figur bei der Vorbereitung des Aufstands.

Was reizt Fachleute möglicherweise an einer Dramenszene?

Unterschied zwischen Schule und Wissenschaft

  • Wir finden es wichtig, zwischen Schule und Wissenschaft zu unterscheiden, wenn es um Literatur geht.
  • Viel zu häufig werden Schüler mit Vorgehensweisen konfrontiert, die eher in ein Germanistik-Studium der Universität gehören.
  • Natürlich sollte man wissen, was das Besondere einer Dramenszene ist und was man alles an ihr untersuchen kann.
  • Aber das sollte unserer Meinung nach nicht der Schwerpunkt in der Schule sein. Da sollte eher das Staunen darüber im Vordergrund stehen, was mehr oder weniger große Dichter sich so haben einfallen lassen.
  • Natürlich soll man dann auch überlegen, warum etwas welche Wirkung auf Leser oder Zuschauer hat.
  • Am meisten aber macht es Spaß, selbst mal so etwas auszuprobieren.

Was Wissenschaftler an Literatur so interessiert …

Wir haben uns jetzt ja viel mit „Wilhelm Tell“ beschäftigt. Also schauen wir einfach mal, was Wissenschaftler an diesem Theaterstück interessiert.

Einen ersten Eindruck bekommt man, wenn man sich eine dieser Lektürehilfen für die Schule anschaut und dabei auf das achten, worauf man nicht selbst als Leser gekommen wäre.

Wir stellen hier mal kurz eine Internet-Variante vor:
https://lektuerehilfe.de/friedrich-schiller/wilhelm-tell

und greifen einfach ein paar Überschriften heraus:

  • „Entstehung und autobiografische Bezüge“: Dort erfährt man dann zum Beispiel, dass Schiller den Stoff von Goethe übernommen hat.
  • „Rezeption und Kritik“: Wie ist das Stück aufgenommen worden.
  • „Literarische Bearbeitungen der Moderne“: Hier wird zum Beispiel „Wilhelm Tell für die Schule“ von Max Frisch kurz vorgestellt.
  • Dann geht es um „Merkmale der Weimarer Klassik“ im Werk – also um Epochenbezüge.
  • Auch um Schillers „Geschichtsphilosophie“. Da geht es um „ein dreistufiges Geschichtsmodell, das die eigene Gegenwart als problematische und unvollkommene mittlere Stufe einstuft: Aus dem ursprünglich harmonischen Naturzustand, der von einer naiven Unschuld geprägt gewesen ist, resultiert durch den kulturellen Fortschritt die Entzweiung im Menschen, durch die seine innere Harmonie zerstört wird.“
  • Dann wird auch die Frage behandelt, inwieweit es sich um ein „geschlossenes Drama“ handelt.
  • Oder die „Rechtfertigung des Tyrannenmords“.

Wissenschaftliches Interesse an einer einzelnen Szene

Nun geht es bei der Szenenanalyse ja nicht direkt um eine Beschäftigung mit dem gesamten Drama.

Aber das kann schon eine Rolle spielen:

  • So kann man etwa darstellen, welchen Beitrag die Szene I,2 mit dem Gespräch zwischen Stauffacher und seiner Frau zur „Exposition“, also der Herausarbeitung des zentralen Konflikts im I. Akt leistet.
  • Oder man kann sich mit Kommunikation zwischen Stauffacher und seiner Frau genauer beschäftigen: Wie gelingt es hier, einen ziemlich verzweifelten Menschen regelrecht aufzubauen.
  • Oder wie ist es mit der politisch-moralischen Frage, für welche Ziele man sein Leben riskieren kann – und ob man einem schlimmen Schicksal wirklich ausweichen sollte und kann, indem man sich selbst umbringt.

Dies soll hier als Anregung zu dieser Frage reichen. Jeder kann ja mal bei der Szene, die er gerade im Unterricht bespricht, den Lehrer fragen, inwieweit sich aus ihr spannende Fragen ergeben könnten.

Vielleicht doch noch ein Nachtrag:

Aus der Szene I,2 kann natürlich eine Facharbeit entstehen, die prüft, ob Schiller auch in anderen Werken so starke Frauenfiguren präsentiert wie diese Gertrud.