Leicht verstehen: „Kleider machen Leute“: Teil 3: Und sie kriegen sich doch – trotz des Skandals

Der Schlussteil der Novelle (ab S. 31)

Wie wir am Ende des 2. Teils gesehen haben, ist es zwischen dem vermeintlichen polnischen Grafen und Nettchen, der Tochter des Amtsrats, endlich zum Kuss gekommen – und jetzt soll (S. 31) schnell die Verlobung gefeiert werden. Allerdings wird auch erwähnt, dass der Buchhalter Böhni, der den angeblichen Grafen durchschaut hat und selbst gerne Nettchen heiraten möchte, in Seldwyla, der Heimatstadt des Schneiders unterwegs gewesen ist.

Wer sich das Folgende lieber „auf die Ohren“ legen will, um in Ruhe alles in der eigenen Textausgabe verfolgen zu können, der findet die entsprechende mp3-Datei hier:

Eine Zeitleiste zu dieser Audio-Datei mit weiteren Erklärungen und Zitaten gibt es hier:
https://textaussage.de/schnell-durchblicken-gottfried-keller-kleider-machen-leute-audio-datei-zum-mitlesen-teil-3

Die geplatzte Verlobungsfeier

Jedenfalls kommt es auf dem Höhepunkt des vermeintlichen Glücks zu einem fürchterlichen Eklat. Dort treffen nämlich zwei Schlitten-Festzüge aufeinander, der des Verlobungspaares aus Goldach und eben einer aus Seldwyla. Und diese Leute führen dann ein Stück auf, in dem die Verwandlung eines Schneiders in einen Grafen vorgeführt wird. Damit ist Wenzel, so wollen wir ihn ab jetzt hier auch nennen, als falscher Graf entlarvt.

Interessant ist, was wir hier auf S. 38/39 erfahren, während er mit hängenden Schultern die Veranstaltung verlässt:

„Das erste deutliche Gefühl, dessen er inne wurde, war dasjenige einer ungeheuren Schande, gleich wie wenn er ein wirklicher Mann von Rang und Ansehen gewesen und nun infam geworden wäre durch Hereinbrechen irgendeines verhängnisvollen Unglückes. Dann löste sich dieses Gefühl aber auf in eine Art Bewusstsein erlittenen Unrechtes; er hatte sich bis zu seinem glorreichen Einzug in die verwünschte Stadt nie ein Vergehen zuschulden kommen lassen; soweit seine Gedanken in die Kindheit zurückreichten, war ihm nicht erinnerlich, dass er je wegen einer Lüge oder einer Täuschung gestraft oder gescholten worden wäre, und nun war er ein Betrüger geworden dadurch, dass die Torheit der Welt ihn in einem unbewachten und sozusagen wehrlosen Augenblicke überfallen und ihn zu ihrem Spielgesellen gemacht hatte. Er kam sich wie ein Kind vor, welches ein anderes boshaftes Kind überredet hat, von einem Altare den Kelch zu stehlen; er hasste und verachtete sich jetzt, aber er weinte auch über sich und seine unglückliche Verirrung.“

Rettung durch Nettchen

Schließlich weiß Wenzel sich keinen anderen Rat, also sich einfach neben der Straße in den Schnee zu legen und er wäre dort sicher erfroren, wenn nicht Nettchen nach ihm gesucht hätte. Schließlich findet sie ihn auch und nimmt ihn mit zu einem nahe gelegenen Bauernhof, wo sie sich aussprechen können (S. 46ff).

Wenzel erzählt Nettchen, wie alles gekommen ist und er macht auch deutlich, dass er nur ihretwegen auf diesem falschen Weg des Graf-Spielens geblieben ist. Das kommt so gut über, dass Nettchen „mehrmals von einem Anflug von Lachen heimgesucht“ (46) wird. Und während ihr Herz „wunderlich klopfte“, will sie wissen, wie Wenzel sich denn eigentlich ihre Zukunft vorgestellt hat.

Die Versöhnung

„Da flammten Wenzels Augen groß und süß auf, und er rief:
‚Ja, jetzt ist es mir klar und deutlich vor Augen, wie es gekommen wäre! Ich wäre mit dir in die weite Welt gegangen, und nachdem ich einige kurze Tage des Glückes mit dir gelebt, hätte ich dir den Betrug gestanden und mir gleichzeitig den Tod gegeben. Du wärest zu deinem Vater zurückgekehrt, wo du wohl aufgehoben gewesen wärest und mich leicht vergessen hättest. Niemand brauchte darum zu wissen; ich wäre spurlos verschollen. – Anstatt an der Sehnsucht nach einem würdigen Dasein, nach einem gütigen Herzen, nach Liebe lebenslang zu kranken‘, fuhr er wehmütig fort, ‚wäre ich einen Augenblick lang groß und glücklich gewesen und hoch über allen, die weder glücklich noch unglücklich sind und doch nie sterben wollen! O hätten Sie mich liegengelassen im kalten Schnee, ich wäre so ruhig eingeschlafen!'“

Jetzt will Nettchen nur noch wissen, ob er vor ihr schon andere Mädchen mit solchen Träumen verbunden hat. Das kann Wenzel verneinen und so kommt, was kommen kann, wenn es auf ein Happy End zuläuft. Auf der Seite 51/52 heißt es:

„Nach kurzem Schweigen, indem ihre Brust sich zu heben begann, stand Nettchen auf, ging um den Tisch herum dem Manne entgegen und fiel ihm um den Hals mit den Worten: ‚Ich will dich nicht verlassen! Du bist mein, und ich will mit dir gehen trotz aller Welt!‘
So feierte sie erst jetzt ihre rechte Verlobung aus tief entschlossener Seele, indem sie in süßer Leidenschaft ein Schicksal auf sich nahm und Treue hielt.
Doch war sie keineswegs so blöde, dieses Schicksal nicht selbst ein wenig lenken zu wollen; vielmehr fasste sie rasch und keck neue Entschlüsse. Denn sie sagte zu dem guten Wenzel, der in dem abermaligen Glückeswechsel verloren träumte:
‚Nun wollen wir gerade nach Seldwyl gehen und den Dortigen, die uns zu zerstören gedachten, zeigen, dass sie uns erst recht vereinigt und glücklich gemacht haben!‘
Dem wackern Wenzel wollte das nicht einleuchten. Er wünschte vielmehr, in unbekannte Weiten zu ziehen und geheimnisvoll romantisch dort zu leben in stillem Glücke, wie er sagte.
Allein Nettchen rief: ‚Keine Romane mehr! Wie du bist, ein armer Wandersmann, will ich mich zu dir bekennen und in meiner Heimat allen diesen Stolzen und Spöttern zum Trotze dein Weib sein! Wir wollen nach Seldwyla gehen und dort durch Tätigkeit und Klugheit die Menschen, die uns verhöhnt haben, von uns abhängig machen!'“

Happy End und auch ein bisschen Strafe für die Debakel-Macher

Es gibt dann noch einiges Hin und Her, aber am Ende kann Nettchen sich durchsetzen – und gemeinsam bauen sie ein gut gehendes Tuch- und Schneidergeschäft in Seldwyla auf – und als sie genug Geld verdient haben, nehmen sie alles mit und verbringen ein glückliches Leben in Nettchens Heimatstadt Goldach.

Interessant der Hinweis am Schluss, wie Wenzel mit den Leuten aus Seldwyla umgeht, die ihm ja den schlimmsten Moment seines Lebens bereitet haben:
„Aber in Seldwyla ließ er nicht einen Stüber (eine Münze wie heute ein Cent-Stück) zurück, sei es aus Undank oder aus Rache.“

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