„Kleider machen Leute“: Teil 1: Armer Schneider wird als Graf behandelt
Vorbemerkung: Wenn wir in Klammern Seitenzahlen angeben, so beziehen sie sich auf die Reclam-Ausgabe.
Was hier als Text erscheint, kann man sich auch als mp3-Datei „auf die Ohren“ legen lassen. Dann kann man sich voll auf die eigene Textausgabe konzentrieren und dort wichtige Textstellen markieren und ggf. auch nachlesen.
Worum geht es überhaupt in der Erzählung?
In der Erzählung „Kleider machen Leute“ von Gottfried Keller, geht es um „ein armes Schneiderlein“ (3), das in der Stadt Seldwyla seinen Job verloren hat und sich auf den Weg in die Nachbarstadt Goldach macht, um dort sein Glück zu versuchen.
Noch eine kurze Bemerkung zur „Novelle“, wie man eine solche Erzählung auch nennt. Wichtig ist dabei, dass es in ihr um etwas Besonderes geht, das auch mehr oder weniger dramatisch präsentiert wird.
Dazu kommt, dass in Novellen häufig bestimmte Dinge eine Rolle spielen – und in dieser Geschichte geht es um Kleider, wie der Titel schon deutlich macht.
Wie der arme Schneider in sein Grafen-Schicksal hineinrutscht
Unterwegs hat der Mann das Glück, vom Kutscher einer herrschaftlich aussehenden Kutsche mitgenommen zu werden. Da er einen sehr edel aussehenden Mantel trägt, wird er nach der Ankunft im Gasthof zur Waage für einen Adligen gehalten und schon ist es passiert:
S. 5: „Der Raum zwischen dem Reisewagen und der Pforte des Gasthauses war schmal und im übrigen der Weg durch die Zuschauer ziemlich gesperrt. Mochte es nun der Mangel an Geistesgegenwart oder an Mut sein, den Haufen zu durchbrechen und einfach seines Weges zu gehen – er tat dieses nicht, sondern ließ sich willenlos in das Haus und die Treppe hinan geleiten und bemerkte seine neue seltsame Lage erst recht, als er sich in einen wohnlichen Speisesaal versetzt sah und ihm sein ehrwürdiger Mantel dienstfertig abgenommen wurde.“
Wie der Schneider vergeblich versucht, seinem Schicksal zu entfliehen
Und genau im gleichen Stil geht es weiter:
S. 5: „‚Der Herr wünscht zu speisen?‘ hieß es, ‚Gleich wird serviert werden, es ist eben gekocht!'“
Während der Wirt mit der Köchin berät, wie man mit der ungeplanten Situation am besten fertig wird, „befand sich der Schneider (heißt es im Text auf S. 7) in der peinlichsten Angst, da der Tisch mit glänzendem Zeuge gedeckt wurde, und so heiß sich der ausgehungerte Mann vor kurzem noch nach einiger Nahrung gesehnt hatte, so ängstlich wünschte er jetzt der drohenden Mahlzeit zu entfliehen. Endlich fasste er sich einen Mut, nahm seinen Mantel um, setzte die Mütze auf und begab sich hinaus, um den Ausweg zu gewinnen. Da er aber in seiner Verwirrung und in dem weitläufigen Hause die Treppe nicht gleich fand, so glaubte der Kellner, den der Teufel beständig umhertrieb, jener suche eine gewisse Bequemlichkeit, rief: ‚Erlauben Sie gefälligst, mein Herr, ich werde Ihnen den Weg weisen!‘ und führte ihn durch einen langen Gang, der nirgend anders endigte als vor einer schön lackierten Türe, auf welcher eine zierliche Inschrift angebracht war.
Und so landet der arme Schneider im Toilettenbereich. Im Text heißt es:
„Also ging der Mantelträger ohne Widerspruch, sanft wie ein Lämmlein, dort hinein und schloss ordentlich hinter sich zu. Dort lehnte er sich bitterlich seufzend an die Wand und wünschte der goldenen Freiheit der Landstraße wieder teilhaftig zu sein, welche ihm jetzt, so schlecht das Wetter war, als das höchste Glück erschien.“
Interessant der Kommentar des Erzählers:
S. 8: „Doch verwickelte er sich jetzt in die erste selbsttätige Lüge, weil er in dem verschlossenen Raume ein wenig verweilte, und er betrat hiemit den abschüssigen Weg des Bösen.“
Wie der Schneider sich immer mehr bewirten lässt
Jetzt kommt er nicht mehr davon, sondern muss sich ordentlich bewirten lassen.
Als er beim Trinken mal zögert, bietet ihm der Wirt gleich einen noch besseren Wein an:
S. 9: „Da beging der Schneider den zweiten selbsttätigen Fehler, indem er aus Gehorsam ja statt nein sagte, und alsobald verfügte sich der Waagwirt persönlich in den Keller, um eine ausgesuchte Flasche zu holen; denn es lag ihm alles daran, daß man sagen könne, es sei etwas Rechtes im Ort zu haben.“
Wie der Schneider sich ins anscheinend Unvermeidliche fügt
So geht es immer vorsichtig weiter, bis es dann doch zu einer Veränderung kommt:
S. 10: Bisher „war es nicht der Rede wert, was der Gast bis jetzt zu sich genommen“, jetzt aber „begann der Hunger, der immerfort so gefährlich gereizt wurde, nun den Schrecken zu überwinden, und als die Pastete von Rebhühnern erschien, schlug die Stimmung des Schneiders gleichzeitig um, und ein fester Gedanke begann sich in ihm zu bilden. »Es ist jetzt einmal, wie es ist!« sagte er sich, von einem neuen Tröpflein Weines erwärmt und aufgestachelt; »Nun wäre ich ein Tor, wenn ich die kommende Schande und Verfolgung ertragen wollte, ohne mich dafür satt gegessen zu haben! Also vorgesehen, weil es noch Zeit ist! Das Türmchen, was sie da aufgestellt haben, dürfte leichtlich die letzte Speise sein, daran will ich mich halten, komme, was da wolle! Was ich einmal im Leibe habe, kann mir kein König wieder rauben!«
Und so isst er sich richtig satt und denkt erst mal nicht mehr über die Folgen nach.
Der Streich des Kutschers
Inzwischen verfestigt sich das Gefühl der Leute, einen edlen Herrn zu behergergen – und das liegt am Kutscher, der auch was zu essen bekommen hat und jetzt weiterfahren will:
S. 11: „Die Angehörigen des Gasthofes zur Waage konnten sich nun nicht länger enthalten und fragten, eh es zu spät wurde, den herrschaftlichen Kutscher geradezu, wer sein Herr da oben sei und wie er heiße? Der Kutscher, ein schalkhafter und durchtriebener Kerl, versetzte: ‚Hat er es noch nicht selbst gesagt?‘
‚Nein‘, hieß es, und er erwiderte: ‚Das glaub ich wohl, der spricht nicht viel in einem Tage; nun, es ist der Graf Strapinski! Er wird aber heut und vielleicht einige Tage hierbleiben, denn er hat mir befohlen, mit dem Wagen vorauszufahren.'“
Interessant auch hier wieder der Kommentar des Erzählers:
S. 11: „Er machte diesen schlechten Spaß, um sich an dem Schneiderlein zu rächen, das, wie er glaubte, statt ihm für seine Gefälligkeit ein Wort des Dankes und des Abschiedes zu sagen, sich ohne Umsehen in das Haus begeben hatte und den Herren spielte. Seine Eulenspiegelei aufs Äußerste treibend, bestieg er auch den Wagen, ohne nach der Zeche für sich und die Pferde zu fragen, schwang die Peitsche und fuhr aus der Stadt, und alles ward so in der Ordnung befunden und dem guten Schneider aufs Kerbholz gebracht.“
Wichtige Leute aus dem Ort kommen hinzu
Nach einiger Zeit treffen die Leute aus dem Ort auch ein, die erwartet worden waren. Am Anfang sind sie ein bisschen skeptisch:
S. 13: „Also das sollte ein polnischer Graf sein? Den Wagen hatten sie freilich […]gesehen; auch wußte man nicht, ob der Wirt den Grafen oder dieser jenen bewirte; doch hatte der Wirt bis jetzt noch keine dummen Streiche gemacht; er war vielmehr als ein ziemlich schlauer Kopf bekannt, und so wurden denn die Kreise, welche die neugierigen Herren um den Fremden zogen, immer kleiner, bis sie sich zuletzt vertraulich an den gleichen Tisch setzten.“
Der Plan, gemeinsam den Amtmann zu besuchen
Sie verstehen sich recht gut mit dem angeblichen Grafen und beschließen schließlich, mit ihm zusammen einen Amtmann in der Nachbarschaft zu besuchen, der (S. 14)„erst vor wenigen Tagen gekeltert hatte, und seinen neuen Wein […] zu kosten.“ Einer der Herren lässt seine eigene Kutsche kommen und bald ist man unterwegs.
Was den angeblichen Grafen angeht, so heißt es am Ende dieses Abschnittes: S. 14: „Der Wein hatte seinen Witz erwärmt; er überdachte schnell, daß er bei dieser Gelegenheit am besten sich unbemerkt entfernen und seine Wanderung fortsetzen könne; den Schaden sollten die törichten und zudringlichen Herren an sich selbst behalten. Er nahm daher die Einladung mit einigen höflichen Worten an und bestieg [… ]den Jagdwagen.“
Und wieder hat der Schneider Glück – er kann sogar reiten!
Auch hier kommt dem Schneider der Zufall zuhilfe, so dass er immer mehr in seine Rolle als Graf hineinwächst:
S. 14:„Nun war es eine weitere Fügung, dass der Schneider, nachdem er auf seinem Dorfe schon als junger Bursch dem Gutsherren zuweilen Dienste geleistet, seine Militärzeit bei den Husaren abgedient hatte und demnach genugsam mit Pferden umzugehen verstand. Wie daher sein Gefährte höflich fragte, ob er vielleicht fahren möge, ergriff er sofort Zügel und Peitsche und fuhr in schulgerechter Haltung in raschem Trabe durch das Tor und auf der Landstraße dahin, so dass die Herren einander ansahen und flüsterten: ‚Es ist richtig, es ist jedenfalls ein Herr!'“
Als nächstes kommt eine junge Frau ins Spiel – darauf gehen wir dann auch noch ein. Bitte etwas Geduld.
Der Schneider, den alle für einen polnischen Grafen halten, hat sich von wichtigen Leuten in der Stadt zu einem Besuch des Amtsrates in der Nachbarschaft überreden lassen. Dort wird tüchtig getrunken, Auch ein bisschen um Geld gespielt. Während die meisten Teilnehmer der Runde auch hier wieder der Meinung sind, dass dieser Graf echt ist, sieht das bei einem ganz anders aus. Auf Seite 16 heißt es:
“Nur Melcher Böhni, der Buchhalter, als ein geborener Zweifler, rieb sich vergnügt die Hände und sagte zu sich selbst: Ich sehe es kommen, daß es wieder einen Goldacher Putsch gibt, ja, er ist gewissermaßen schon da! Es war aber auch Zeit, denn schon sind’s zwei Jahre seit dem letzten! Der Mann dort hat mir so wunderlich zerstochene Finger, vielleicht von Praga oder Ostrolenka her! Nun, ich, werde mich hüten, den Verlauf zu stören!”
Dann geht es um ein Glücksspiel, bei dem jeder Geld einsetzen muss – auch hier ist es dieser Melchior Böhni, der dem falschen Grafen mit einem Geldstück aushilft und ihn immer mehr durchschaut. Auf S. 17 heißt es:
“Böhni, welcher ihn fortwährend scharf betrachtete, war jetzt fast im klaren über ihn und dachte: Den Teufel fährt der in einem vierspännigen Wagen! Weil er aber zugleich bemerkte, dass der rätselhafte Fremde keine Gier nach dem Gelde gezeigt, sich überhaupt bescheiden und nüchtern verhalten hatte, so war er nicht übel gegen ihn gesinnt, sondern beschloss, die Sache durchaus gehen zu lassen.”
Dann wird es spannend, denn der falsche Graf hat einiges Geld gewonnen und will die nächste Gelegenheit nutzen, um zu verschwinden. Danach will er von dem Geld seine Kosten in Goldach bezahlen.
Er geht also spazieren, entfernt sich immer weiter und hat es fast geschafft, als plötzlich der Amtsrat mit seiner Tochter auftaucht. Er wird jetzt noch zum Abendbrot eingeladen und ist somit wieder gefangen.
Allerdings hat sich etwas verändert, was der Erzähler auf S. 18 so formuliert:
“ Denn eine neue Wendung war eingetreten, ein Fräulein beschritt den Schauplatz der Ereignisse. Doch schadete ihm seine Blödigkeit und übergroße Ehrerbietung nichts bei der Dame; im Gegenteil, die Schüchternheit, Demut und Ehrerbietung eines so vornehmen und interessanten jungen Edelmanns erschien ihr wahrhaft rührend, ja hinreißend. Da sieht man, fuhr es ihr durch den Sinn, je nobler, desto bescheidener und unverdorbener; merkt es euch, ihr Herren Wildfänge von Goldach, die ihr vor jungen Mädchen kaum mehr den Hut berührt!”
Der falsche Graf blüht jetzt richtig auf, was der Erzähler auf S. 19 so formuliert:
“…kurz, das Schneiderblütchen fing in der Nähe des Frauenzimmers an, seine Sprünge zu machen und seinen Reiter davonzutragen.”
Aber erst mal geht es wieder nach Goldach zurück, wo der falsche Graf plötzlich das Problem hat, dass er für die anstehende Übernachtung überhaupt nichts dabei hat. Der Wirt will jetzt schnell einen Boten schicken, der den Kutscher dazu bringt, dass angeblich vergessener Gepäck im Gasthof zurückzulassen, aber dem kann der falsche Graf entgehen, indem er den Eindruck erweckt, dass er politisch verfolgt sei und erst mal unter tauchen müsse.
Er macht dann am nächsten Tag einen Gang durch die Stadt – und will wieder einmal die Gelegenheit nutzen, um zu verschwinden, aber wieder begegnet er Nettchen – und das führt dazu, dass er wieder in die Stadt zurückkehrt. Wie sehr das Interesse an diesem Mädchen den falschen Grafen verändert, macht der Erzähler auf S. 26 so deutlich:
“Nun war der Geist in ihn gefahren. Mit jedem Tage wandelte er sich, gleich einem Regenbogen, der zusehends bunter wird an der vorbrechenden Sonne. Er lernte in Stunden, in Augenblicken, was andere nicht in Jahren, da es in ihm gesteckt hatte wie das Farbenwesen im Regentropfen. Er beachtete wohl die Sitten seiner Gastfreunde und bildete sie während des Beobachtens zu einem Neuen und Fremdartigen um; besonders suchte er abzulauschen, was sie sich eigentlich unter ihm dächten und was für ein Bild sie sich von ihm gemacht. Dies Bild arbeitete er weiter aus nach seinem eigenen Geschmacke, zur vergnüglichen Unterhaltung der einen, welche gern etwas Neues sehen wollten, und zur Bewunderung der anderen, besonders der Frauen, welche nach erbaulicher Anregung dürsteten. So ward er rasch zum Helden eines artigen Romanes, an welchem er gemeinsam mit der Stadt und liebevoll arbeitete, dessen Hauptbestandteil aber immer noch das Geheimnis war.”
Aber
Aber nachts schlägt ihm dann doch das Gewissen – und so schwankt er zwischen Bleiben und der Absicht, bei nächster Gelegenheit doch zu verschwinden.
In der Zwischenzeit erprobt er weiter sein Glück in verschiedenen Lotterien und macht dabei auch einiges Geld.
Jetzt könnte er verschwinden, wenn da nicht Nettchen wäre. Also wählt er einen Mittelweg (S. 28):
“Anstatt aber kurz abzubinden, seine Schulden gradaus zu bezahlen und abzureisen, gedachte er, wie er sich vorgenommen, eine kurze Geschäftsreise vorzugehen, dann aber von irgendeiner großen Stadt aus zu melden, daß das unerbittliche Schicksal ihm verbiete, je wiederzukehren; dabei wolle er seinen Verbindlichkeiten nachkommen, ein gutes Andenken hinterlassen und seinem Schneiderberufe sich aufs neue und mit mehr Umsicht und Glück widmen oder auch sonst einen anständigen Lebensweg erspähen. Am liebsten wäre er freilich auch als Schneidermeister in Goldach geblieben und hätte jetzt die Mittel gehabt, sich da ein bescheidenes Auskommen zu begründen; allein es war klar, dass er hier nur als Graf leben konnte.”
Aus dieser Kurzzeit-Flucht wird aber nichts, denn als er das verkündet, ist Nettchen, die inzwischen schon hin und wieder “Gräfin” genannt wird, erst entsetzt, dann verzweifelt. Glücklicherweise kommt es dann aber zu einer Zweier-Begegnung im Garten, wo sich alles klärt und sie sich glücklich unter Tränen in die Arme fallen (29/30).
Nettchen erklärt ihrem Vater dann auch: Dieser Graf – und sonst keiner!” und bekommt dann auch schnell die entsprechende Erlaubnis.
Im nächsten Teil werden wir dann sehen, dass aus der geplanten Verlobungsfeier nichts wird.
Wie wir am Ende des 2. Teils gesehen haben, ist es zwischen dem vermeintlichen polnischen Grafen und Nettchen, der Tochter des Amtsrats, endlich zum Kuss gekommen – und jetzt soll (S. 31) schnell die Verlobung gefeiert werden. Allerdings wird auch erwähnt, dass der Buchhalter Böhni, der den angeblichen Grafen durchschaut hat und selbst gerne Nettchen heiraten möchte, in Seldwyla, der Heimatstadt des Schneiders unterwegs gewesen ist.
Wer sich das Folgende lieber „auf die Ohren“ legen will, um in Ruhe alles in der eigenen Textausgabe verfolgen zu können, der findet die entsprechende mp3-Datei hier:
Jedenfalls kommt es auf dem Höhepunkt des vermeintlichen Glücks zu einem fürchterlichen Eklat. Dort treffen nämlich zwei Schlitten-Festzüge aufeinander, der des Verlobungspaares aus Goldach und eben einer aus Seldwyla. Und diese Leute führen dann ein Stück auf, in dem die Verwandlung eines Schneiders in einen Grafen vorgeführt wird. Damit ist Wenzel, so wollen wir ihn ab jetzt hier auch nennen, als falscher Graf entlarvt.
Interessant ist, was wir hier auf S. 38/39 erfahren, während er mit hängenden Schultern die Veranstaltung verlässt:
„Das erste deutliche Gefühl, dessen er inne wurde, war dasjenige einer ungeheuren Schande, gleich wie wenn er ein wirklicher Mann von Rang und Ansehen gewesen und nun infam geworden wäre durch Hereinbrechen irgendeines verhängnisvollen Unglückes. Dann löste sich dieses Gefühl aber auf in eine Art Bewusstsein erlittenen Unrechtes; er hatte sich bis zu seinem glorreichen Einzug in die verwünschte Stadt nie ein Vergehen zuschulden kommen lassen; soweit seine Gedanken in die Kindheit zurückreichten, war ihm nicht erinnerlich, dass er je wegen einer Lüge oder einer Täuschung gestraft oder gescholten worden wäre, und nun war er ein Betrüger geworden dadurch, dass die Torheit der Welt ihn in einem unbewachten und sozusagen wehrlosen Augenblicke überfallen und ihn zu ihrem Spielgesellen gemacht hatte. Er kam sich wie ein Kind vor, welches ein anderes boshaftes Kind überredet hat, von einem Altare den Kelch zu stehlen; er hasste und verachtete sich jetzt, aber er weinte auch über sich und seine unglückliche Verirrung.“
Rettung durch Nettchen
Schließlich weiß Wenzel sich keinen anderen Rat, also sich einfach neben der Straße in den Schnee zu legen und er wäre dort sicher erfroren, wenn nicht Nettchen nach ihm gesucht hätte. Schließlich findet sie ihn auch und nimmt ihn mit zu einem nahe gelegenen Bauernhof, wo sie sich aussprechen können (S. 46ff).
Wenzel erzählt Nettchen, wie alles gekommen ist und er macht auch deutlich, dass er nur ihretwegen auf diesem falschen Weg des Graf-Spielens geblieben ist. Das kommt so gut über, dass Nettchen „mehrmals von einem Anflug von Lachen heimgesucht“ (46) wird. Und während ihr Herz „wunderlich klopfte“, will sie wissen, wie Wenzel sich denn eigentlich ihre Zukunft vorgestellt hat.
Die Versöhnung
„Da flammten Wenzels Augen groß und süß auf, und er rief:
‚Ja, jetzt ist es mir klar und deutlich vor Augen, wie es gekommen wäre! Ich wäre mit dir in die weite Welt gegangen, und nachdem ich einige kurze Tage des Glückes mit dir gelebt, hätte ich dir den Betrug gestanden und mir gleichzeitig den Tod gegeben. Du wärest zu deinem Vater zurückgekehrt, wo du wohl aufgehoben gewesen wärest und mich leicht vergessen hättest. Niemand brauchte darum zu wissen; ich wäre spurlos verschollen. – Anstatt an der Sehnsucht nach einem würdigen Dasein, nach einem gütigen Herzen, nach Liebe lebenslang zu kranken‘, fuhr er wehmütig fort, ‚wäre ich einen Augenblick lang groß und glücklich gewesen und hoch über allen, die weder glücklich noch unglücklich sind und doch nie sterben wollen! O hätten Sie mich liegengelassen im kalten Schnee, ich wäre so ruhig eingeschlafen!'“
Jetzt will Nettchen nur noch wissen, ob er vor ihr schon andere Mädchen mit solchen Träumen verbunden hat. Das kann Wenzel verneinen und so kommt, was kommen kann, wenn es auf ein Happy End zuläuft. Auf der Seite 51/52 heißt es:
„Nach kurzem Schweigen, indem ihre Brust sich zu heben begann, stand Nettchen auf, ging um den Tisch herum dem Manne entgegen und fiel ihm um den Hals mit den Worten: ‚Ich will dich nicht verlassen! Du bist mein, und ich will mit dir gehen trotz aller Welt!‘
So feierte sie erst jetzt ihre rechte Verlobung aus tief entschlossener Seele, indem sie in süßer Leidenschaft ein Schicksal auf sich nahm und Treue hielt.
Doch war sie keineswegs so blöde, dieses Schicksal nicht selbst ein wenig lenken zu wollen; vielmehr fasste sie rasch und keck neue Entschlüsse. Denn sie sagte zu dem guten Wenzel, der in dem abermaligen Glückeswechsel verloren träumte:
‚Nun wollen wir gerade nach Seldwyl gehen und den Dortigen, die uns zu zerstören gedachten, zeigen, dass sie uns erst recht vereinigt und glücklich gemacht haben!‘
Dem wackern Wenzel wollte das nicht einleuchten. Er wünschte vielmehr, in unbekannte Weiten zu ziehen und geheimnisvoll romantisch dort zu leben in stillem Glücke, wie er sagte.
Allein Nettchen rief: ‚Keine Romane mehr! Wie du bist, ein armer Wandersmann, will ich mich zu dir bekennen und in meiner Heimat allen diesen Stolzen und Spöttern zum Trotze dein Weib sein! Wir wollen nach Seldwyla gehen und dort durch Tätigkeit und Klugheit die Menschen, die uns verhöhnt haben, von uns abhängig machen!'“
Happy End und auch ein bisschen Strafe für die Debakel-Macher
Es gibt dann noch einiges Hin und Her, aber am Ende kann Nettchen sich durchsetzen – und gemeinsam bauen sie ein gut gehendes Tuch- und Schneidergeschäft in Seldwyla auf – und als sie genug Geld verdient haben, nehmen sie alles mit und verbringen ein glückliches Leben in Nettchens Heimatstadt Goldach.
Interessant der Hinweis am Schluss, wie Wenzel mit den Leuten aus Seldwyla umgeht, die ihm ja den schlimmsten Moment seines Lebens bereitet haben:
„Aber in Seldwyla ließ er nicht einen Stüber (eine Münze wie heute ein Cent-Stück) zurück, sei es aus Undank oder aus Rache.“
Wie wird ein arbeitsloser Schneider zu einem falschen polnischen Grafen?
Er hat zunächst das Glück und dann auch das Pech, Von einem freundlichen Kutscher in einem Reisewagen mitgenommen zu werden.
So muss er nicht mehr bei schlechtem Wetter zu Fuß durch die Gegend laufen, allerdings gehört die zur Zeit leere Kutsche einem Grafen. Das führt dazu, dass er am Ziel Ort für eine wichtige Person gehalten wird,
Warum kommt er aus der Nummer nicht einfach wieder raus?
Weil er zu „massenhaft“ empfangen wird.
Weil der Gasthofbesitzer zu sehr darauf aus ist, hier einen bedeutenden Gast optimal zu bewirten.
Weil er auch Pech hat und statt im Freien auf dem Klo landet.
Weil er sich schließlich in Nettchen verliebt.
Wieso lebt er dann plötzlich nach dem Motto: „Wenn schon, denn schon!“
Weil er merkt, dass er schon zu sehr in die Sache verstrickt ist
und somit sowieso Unannehmlichkeiten, wenn nicht sogar eine Strafe zu erwarten hat
und deshalb beschließt, sich wenigstens was zu gönnen,
weil man ihm das nicht mehr nehmen kann.
Was bringt die große Wende in seinem falschen Grafen Leben?
Die Begegnung mit Nettchen
Wieso wird der falsche Graf Opfer eines klugen Buchhalters?
Weil der sich als einziger nicht blenden lässt,
misstrauisch ist
und auch auf gewisse Indizien achtet
und schließlich den Heimatort des Schneiders aktiviert
Wie kommt es doch noch zu einem happy end?
Weil Nettchen eine Wandlung durchläuft hin zu einem sehr nachdenklichen und selbstständigen Wesen
und weil sie wissen will, was da genau schief gelaufen ist
und schließlich dem Schneider glaubt
und die Heirat gegen alle Widerstände durchsetzt.
Wieso kann man dieses happy end mit einem Fragezeichen versehen?
Weil der Schneider eigentlich ein romantischer Mensch ist,
der mehr will und zu bieten hat als nur ein Kaufmannsleben,
aber dann doch ziemlich hinter seine aktive und starke Frau zurücktritt.
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