„Kleider machen Leute“: Teil 1: Armer Schneider wird als Graf behandelt
Vorbemerkung: Wenn wir in Klammern Seitenzahlen angeben, so beziehen sie sich auf die Reclam-Ausgabe.
Was hier als Text erscheint, kann man sich auch als mp3-Datei „auf die Ohren“ legen lassen. Dann kann man sich voll auf die eigene Textausgabe konzentrieren und dort wichtige Textstellen markieren und ggf. auch nachlesen.
Worum geht es überhaupt in der Erzählung?
In der Erzählung „Kleider machen Leute“ von Gottfried Keller, geht es um „ein armes Schneiderlein“ (3), das in der Stadt Seldwyla seinen Job verloren hat und sich auf den Weg in die Nachbarstadt Goldach macht, um dort sein Glück zu versuchen.
Noch eine kurze Bemerkung zur „Novelle“, wie man eine solche Erzählung auch nennt. Wichtig ist dabei, dass es in ihr um etwas Besonderes geht, das auch mehr oder weniger dramatisch präsentiert wird.
Dazu kommt, dass in Novellen häufig bestimmte Dinge eine Rolle spielen – und in dieser Geschichte geht es um Kleider, wie der Titel schon deutlich macht.
Wie der arme Schneider in sein Grafen-Schicksal hineinrutscht
Unterwegs hat der Mann das Glück, vom Kutscher einer herrschaftlich aussehenden Kutsche mitgenommen zu werden. Da er einen sehr edel aussehenden Mantel trägt, wird er nach der Ankunft im Gasthof zur Waage für einen Adligen gehalten und schon ist es passiert:
S. 5: „Der Raum zwischen dem Reisewagen und der Pforte des Gasthauses war schmal und im übrigen der Weg durch die Zuschauer ziemlich gesperrt. Mochte es nun der Mangel an Geistesgegenwart oder an Mut sein, den Haufen zu durchbrechen und einfach seines Weges zu gehen – er tat dieses nicht, sondern ließ sich willenlos in das Haus und die Treppe hinan geleiten und bemerkte seine neue seltsame Lage erst recht, als er sich in einen wohnlichen Speisesaal versetzt sah und ihm sein ehrwürdiger Mantel dienstfertig abgenommen wurde.“
Wie der Schneider vergeblich versucht, seinem Schicksal zu entfliehen
Und genau im gleichen Stil geht es weiter:
S. 5: „‚Der Herr wünscht zu speisen?‘ hieß es, ‚Gleich wird serviert werden, es ist eben gekocht!'“
Während der Wirt mit der Köchin berät, wie man mit der ungeplanten Situation am besten fertig wird, „befand sich der Schneider (heißt es im Text auf S. 7) in der peinlichsten Angst, da der Tisch mit glänzendem Zeuge gedeckt wurde, und so heiß sich der ausgehungerte Mann vor kurzem noch nach einiger Nahrung gesehnt hatte, so ängstlich wünschte er jetzt der drohenden Mahlzeit zu entfliehen. Endlich fasste er sich einen Mut, nahm seinen Mantel um, setzte die Mütze auf und begab sich hinaus, um den Ausweg zu gewinnen. Da er aber in seiner Verwirrung und in dem weitläufigen Hause die Treppe nicht gleich fand, so glaubte der Kellner, den der Teufel beständig umhertrieb, jener suche eine gewisse Bequemlichkeit, rief: ‚Erlauben Sie gefälligst, mein Herr, ich werde Ihnen den Weg weisen!‘ und führte ihn durch einen langen Gang, der nirgend anders endigte als vor einer schön lackierten Türe, auf welcher eine zierliche Inschrift angebracht war.
Und so landet der arme Schneider im Toilettenbereich. Im Text heißt es:
„Also ging der Mantelträger ohne Widerspruch, sanft wie ein Lämmlein, dort hinein und schloss ordentlich hinter sich zu. Dort lehnte er sich bitterlich seufzend an die Wand und wünschte der goldenen Freiheit der Landstraße wieder teilhaftig zu sein, welche ihm jetzt, so schlecht das Wetter war, als das höchste Glück erschien.“
Interessant der Kommentar des Erzählers:
S. 8: „Doch verwickelte er sich jetzt in die erste selbsttätige Lüge, weil er in dem verschlossenen Raume ein wenig verweilte, und er betrat hiemit den abschüssigen Weg des Bösen.“
Wie der Schneider sich immer mehr bewirten lässt
Jetzt kommt er nicht mehr davon, sondern muss sich ordentlich bewirten lassen.
Als er beim Trinken mal zögert, bietet ihm der Wirt gleich einen noch besseren Wein an:
S. 9: „Da beging der Schneider den zweiten selbsttätigen Fehler, indem er aus Gehorsam ja statt nein sagte, und alsobald verfügte sich der Waagwirt persönlich in den Keller, um eine ausgesuchte Flasche zu holen; denn es lag ihm alles daran, daß man sagen könne, es sei etwas Rechtes im Ort zu haben.“
Wie der Schneider sich ins anscheinend Unvermeidliche fügt
So geht es immer vorsichtig weiter, bis es dann doch zu einer Veränderung kommt:
S. 10: Bisher „war es nicht der Rede wert, was der Gast bis jetzt zu sich genommen“, jetzt aber „begann der Hunger, der immerfort so gefährlich gereizt wurde, nun den Schrecken zu überwinden, und als die Pastete von Rebhühnern erschien, schlug die Stimmung des Schneiders gleichzeitig um, und ein fester Gedanke begann sich in ihm zu bilden. »Es ist jetzt einmal, wie es ist!« sagte er sich, von einem neuen Tröpflein Weines erwärmt und aufgestachelt; »Nun wäre ich ein Tor, wenn ich die kommende Schande und Verfolgung ertragen wollte, ohne mich dafür satt gegessen zu haben! Also vorgesehen, weil es noch Zeit ist! Das Türmchen, was sie da aufgestellt haben, dürfte leichtlich die letzte Speise sein, daran will ich mich halten, komme, was da wolle! Was ich einmal im Leibe habe, kann mir kein König wieder rauben!«
Und so isst er sich richtig satt und denkt erst mal nicht mehr über die Folgen nach.
Der Streich des Kutschers
Inzwischen verfestigt sich das Gefühl der Leute, einen edlen Herrn zu behergergen – und das liegt am Kutscher, der auch was zu essen bekommen hat und jetzt weiterfahren will:
S. 11: „Die Angehörigen des Gasthofes zur Waage konnten sich nun nicht länger enthalten und fragten, eh es zu spät wurde, den herrschaftlichen Kutscher geradezu, wer sein Herr da oben sei und wie er heiße? Der Kutscher, ein schalkhafter und durchtriebener Kerl, versetzte: ‚Hat er es noch nicht selbst gesagt?‘
‚Nein‘, hieß es, und er erwiderte: ‚Das glaub ich wohl, der spricht nicht viel in einem Tage; nun, es ist der Graf Strapinski! Er wird aber heut und vielleicht einige Tage hierbleiben, denn er hat mir befohlen, mit dem Wagen vorauszufahren.'“
Interessant auch hier wieder der Kommentar des Erzählers:
S. 11: „Er machte diesen schlechten Spaß, um sich an dem Schneiderlein zu rächen, das, wie er glaubte, statt ihm für seine Gefälligkeit ein Wort des Dankes und des Abschiedes zu sagen, sich ohne Umsehen in das Haus begeben hatte und den Herren spielte. Seine Eulenspiegelei aufs Äußerste treibend, bestieg er auch den Wagen, ohne nach der Zeche für sich und die Pferde zu fragen, schwang die Peitsche und fuhr aus der Stadt, und alles ward so in der Ordnung befunden und dem guten Schneider aufs Kerbholz gebracht.“
Wichtige Leute aus dem Ort kommen hinzu
Nach einiger Zeit treffen die Leute aus dem Ort auch ein, die erwartet worden waren. Am Anfang sind sie ein bisschen skeptisch:
S. 13: „Also das sollte ein polnischer Graf sein? Den Wagen hatten sie freilich […]gesehen; auch wußte man nicht, ob der Wirt den Grafen oder dieser jenen bewirte; doch hatte der Wirt bis jetzt noch keine dummen Streiche gemacht; er war vielmehr als ein ziemlich schlauer Kopf bekannt, und so wurden denn die Kreise, welche die neugierigen Herren um den Fremden zogen, immer kleiner, bis sie sich zuletzt vertraulich an den gleichen Tisch setzten.“
Der Plan, gemeinsam den Amtmann zu besuchen
Sie verstehen sich recht gut mit dem angeblichen Grafen und beschließen schließlich, mit ihm zusammen einen Amtmann in der Nachbarschaft zu besuchen, der (S. 14)„erst vor wenigen Tagen gekeltert hatte, und seinen neuen Wein […] zu kosten.“ Einer der Herren lässt seine eigene Kutsche kommen und bald ist man unterwegs.
Was den angeblichen Grafen angeht, so heißt es am Ende dieses Abschnittes: S. 14: „Der Wein hatte seinen Witz erwärmt; er überdachte schnell, daß er bei dieser Gelegenheit am besten sich unbemerkt entfernen und seine Wanderung fortsetzen könne; den Schaden sollten die törichten und zudringlichen Herren an sich selbst behalten. Er nahm daher die Einladung mit einigen höflichen Worten an und bestieg [… ]den Jagdwagen.“
Und wieder hat der Schneider Glück – er kann sogar reiten!
Auch hier kommt dem Schneider der Zufall zuhilfe, so dass er immer mehr in seine Rolle als Graf hineinwächst:
S. 14:„Nun war es eine weitere Fügung, dass der Schneider, nachdem er auf seinem Dorfe schon als junger Bursch dem Gutsherren zuweilen Dienste geleistet, seine Militärzeit bei den Husaren abgedient hatte und demnach genugsam mit Pferden umzugehen verstand. Wie daher sein Gefährte höflich fragte, ob er vielleicht fahren möge, ergriff er sofort Zügel und Peitsche und fuhr in schulgerechter Haltung in raschem Trabe durch das Tor und auf der Landstraße dahin, so dass die Herren einander ansahen und flüsterten: ‚Es ist richtig, es ist jedenfalls ein Herr!'“
Als nächstes kommt eine junge Frau ins Spiel – darauf gehen wir dann auch noch ein. Bitte etwas Geduld.