Vergleich Eichendorff, „Das zerbrochene Ringlein“ und Werfel, „Blick-Begegnung“

Romantik und Expressionismus

Der Vergleich von Gedichten aus der Romantik mit solchen aus dem Expressionismus ist immer interessant. Denn es gibt erhebliche Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den Epochen.

Die Romantiker greifen nach dem Höchsten, setzen dabei stark auf Gefühle. Letzteres gilt auch für die Expressionisten. Allerdings sind sie natürlich schon einige Jahrzehnte von dem glaubensseligen Idealismus um 1800 (und in den Ausläufern bis in die 50er Jahre des 19. Jhdts.) entfernt.

Aber es gibt ja auch die „Nachtseite“ der Romantik – und vom Grausigen ist es kein weiter Weg mehr bis zum Grässlichen.

Aber schauen wir uns das einfach mal an zwei Gedichten an.

Dazu gibt es auch ein Video, das man hier aufrufen kann:
https://youtu.be/D3Sa1sTweRQ

Die Dokumentation kann man hier herunterladen:

Mat1786 Wie findet man passende Gedichte zum Vergleich Romantik-Expressionismus

Eichendorff, „Das zerbrochene Ringlein“

Joseph von Eichendorff

Das zerbrochene Ringlein

In einem kühlen Grunde
Da geht ein Mühlenrad,
Mein Liebste ist verschwunden,
Die dort gewohnet hat.

  • Das Gedicht beginnt mit der Beschreibung eines Verlustes, der mit einem ganz bestimmten Ort verbunden ist.

Sie hat mir Treu versprochen,
Gab mir ein’n Ring dabei,
Sie hat die Treu gebrochen,
Mein Ringlein sprang entzwei.

  • Die zweite Strophe bringt dann den maximalen Kontrast zwischen dem Versprechen der Treue und dem Bruch, verbunden mit dem Symbol des Rings, der auch zerstört ist.

Ich möcht als Spielmann reisen
Weit in die Welt hinaus,
Und singen meine Weisen,
Und gehn von Haus zu Haus.

  • Was macht der Romantiker, wenn er in Not kommt: Er flieht hinaus und hofft dort als Spielmann wahrscheinlich, seine innere Not loszuwerden.
  • Interessant die Wiederaufnahme des Motivs der Wohnung, diesmal aber geht es nicht mehr um eine direkt oder indirekt eigene (der Liebsten), sondern um andere Menschen, von deren möglicherweise noch vorhandenem Glück man gewissermaßen nur ein bisschen was abbekommt.

Ich möcht als Reiter fliegen
Wohl in die blutge Schlacht,
Um stille Feuer liegen
Im Feld bei dunkler Nacht.

  • Einige Romantiker gehen dann noch einen Schritt weiter: Sie schreien oder zumindest singen ihre Qual nicht nur hinaus (man wird an das Wort von Goethes Tasso erinnert: „Gab mir ein Gott zu sagen, wie ich leide„,
  • sondern suchen auch die existenzielle Herausforderung bis hin zur Gefahr des Todes.Hör ich das Mühlrad gehen:
    Ich weiß nicht, was ich will –
    Ich möcht am liebsten sterben,
    Da wärs auf einmal still!
  • Die letzte Strophe macht diesen Zusammenhang dann auch ganz deutlich,
  • wobei das Mühlrad die quälende Verbindung von Glück und Verlust immer wieder in Erinnerung ruft.

Franz Werfel, „Blick – Begegnung“

Franz Werfel

Blick – Begegnung

Ein Blick!
Ein Grüßen, Schmachten, Gleißen,
Ein Wiedersehn von Sternenzeiten her!
Die Straße strömt,
Das Schicksal ist bereit.
Ein rasches heißes Voneinanderreißen!
Matt rückgewandt ein: Noch, noch ist es Zeit!
Und jetzt: Nie mehr!

  • Der Titel gibt noch Hoffnung, indem er den Blick zumindest mit einer Begegnung verbindet, also eine Steigerung enthält.
  • Die nächsten Zeilen sind dann schon typisch expressionistisch: Es beginnt mit immer stärker werdenden Gefühlen, die sich dann ins Kosmische hineinsteigern.
  • Aus der Festigkeit der Normalität („Straße“) wird eine Art Fluss („strömt“), von dem man wohl mitgerissen wird.
  • Alles zusammengefasst im Begriff des Schicksals, das sich hier jetzt positiv erfüllen könnte.
  • Dann eine Kombination von Schnelligkeit, Intensität, aber auch schon „Voneinanderreißen“, ein zumindest ansatzweise gewalttätiger, schmerzender Vorgang, der im Wort aber noch die vergangene Gemeinsamkeit sichtbar macht.
  • Den Schluss bildet dann die Gegenüberstellung von Sich-etwas-Vormachen und der brutalen Erkenntnis, dass hier etwas endgültig zu Ende gegangen ist.
  • Insgesamt wirkt das Gedicht Werfels deutlich moderner in der Radikalität der Empfindungen und Zuschreibungen, am Ende aber regiert das „matt“, während es bei Eichendorff noch so etwas wie Ausbruchsaktivität zumindest in eine Untergangsvariante von Autonomie.

Vergleich

  1. Natürlich werden schon in der Sprache die Unterschiede der beiden Epochen sichtbar: In der Romantik eine voll ausgestaltete Syntax, im Expressionismus ein stark reduzierter Satzbau.
  2. Auch der Inhalt ist im romantischen Gedicht volksliedhaft ausgearbeitet in einen Ablauf von Handlungsstationen – wobei Wünsche natürlich auch Handlungen sind.
  3. Demgegenüber im Expressionismus durchaus auch eine Entwicklung, das aber stark bis hin ins Kosmische überhöht wird.
  4. Außerdem konzentriert sie sich mehr auf den Ablauf der Beziehung, während im Eichendorff-Gedicht der Ablauf der Verarbeitung noch wichtiger ist.
  5. Während es bei Eichendorff zumindest noch den Versuch der Verarbeitung gibt, hat man bei Werfel den Eindruck der Müdigkeit, der Hinnahme des unvermeidlichen Schicksals.

Liste von Gedichten: Vergleich Romantik Expressionismus

Eine Liste von Gedichten aus den beiden Epochen des Expressionismus und der Romantik, die man gut miteinander vergleichen kann, findet sich auf der Seite:

https://www.schnell-durchblicken2.de/vergleich-gedichte-expressionismus-romantik

Weiterführende Hinweise

Übersicht: Vergleich des Dramas „Nathan der Weise“ mit dem Roman von Pressler

Vergleich des Dramas „Nathan der Weise“ mit dem Roman von Pressler

Überblick über Infos und Materialien

Die Seite wird noch erstellt.

Fertig sind schon:

Grundlagen eines Vergleichs von Drama und Roman: „Nathan der Weise“

Nathan – Drama-Roman-Vergleich: Vorüberlegungen

Vergleich des Dramas „Nathan der Weise“ mit dem Roman von Pressler – Check der Kapitel

 

Grundlagen eines Vergleichs von Drama und Roman: „Nathan der Weise“

Was man wissen sollte, wenn man ein Drama mit einem Roman vergleicht

  • Wenn man ein Drama aus einer früheren Zeit mit einer aktuellen Roman-Variante vergleichen will, dann gibt es drei Aspekte, die man berücksichtigen sollte.
    • Da ist zum einen natürlich die veränderte Gattung.
    • Ein Drama ist dafür da, von Schauspielern auf der Bühne gespielt zu werden.
    • Dabei spielt zum einen die Kulisse und Ähnliches eine Rolle, was mit den Interpretationsabsichten des Regisseurs zusammenhängt.
    • Außerdem wird der Sprechtext durch die Schauspieler auch auf eine ganz eigene Weise einschließlich Körpersprache umgesetzt und damit auch interpretiert.
    • D.h.: Zwischen dem Text des Dramas einschließlich der Regieanweisungen und den Zuschauern schiebt sich die Ebene des jeweiligen Regisseurs, der eigene Akzente setzt.
    • Natürlich kann ein Drama auch gelesen werden und das ist in der Schule der Normalfall, aber auch dann gilt, dass vieles der Fantasie des Lesers überlassen bleibt, weil die Regiebemerkungen in der Regel knapp ausfallen.
  • Neben diesen Präsentationsaspekten gibt es natürlich auch einige inhaltliche Besonderheiten von Dramen.
    • In der Regel geht es um einen Konflikt, der dann dramaturgisch entwickelt wird.
    • Am einfachsten kann man das an dem berühmten Fünf-Akte-Schema des klassischen damals klarmachen.
  • Zu den Besonderheiten des Dramas gehört auch, dass nicht alles auf dem Bühne gezeigt werden kann.
    • Dementsprechend hat man schon früher Tricks eingebaut wie den Botenbericht oder die Mauerschau.
    • Ein Roman hat diese Probleme nicht. Dort kann im Prinzip alles präsentiert werden, was zur Welt gehört.
  • Dieser Weite steht aber auch eine ganz besondere Engführung gegenüber,
    • nämlich die, die sich durch die Perspektive und die Haltung des Erzählers ergibt. Alles wird eben aus dem Blickwinkel des Erzählers präsentiert, außerdem auch durch seine besondere Brille gesehen. Wenn er etwas kritisch sieht, dann wird diese Haltung auch bestimmen, welche Elemente er präsentiert und wie er sie präsentiert.
    • Man kann es ganz brutal formulieren: Ein Roman ist ein riesiger Monolog einer einzelnen Person beziehungsweise Figur.
    • Dem kann sich der Leser nur beugen oder mit eigenen Ideen entgegenstellen.
  • Wenn der Roman sich auf ein Drama aus einer früheren Epoche bezieht,
    • kommen neben den ganzen spezifischen Unterschieden noch kulturhistorische hinzu.
    • In der Zeit der Aufklärung lebt man in anderen Kontexten und nun die Wirklichkeit anders war, etwa im Sinne der Aufklärung oder auch im Sinne der Gegenseite.
  • Schließlich werden literarische Werke immer auch von Menschen geschrieben
    • und so spricht einiges dafür, dass Lessing auch als Person eine ganz eigene Perspektive und Haltung hatte, die sich mehr oder weniger stark von dir Mirjam Presslersunterscheiden kann.
  • Ausblick auf die Gattung Film:
    • Ein interessantes Gedankenspiel könnte es sein, den Nathanstoff, wie ihn Lessing gestaltet und Pressler abgewandelt hat, in das Medium Film zu überführen.
    • Dabei wird dann deutlich werden, dass es dort in der Regel auch keinen Erzähler gibt, sondern alles ebenfalls auf einer Bühne präsentiert wird, nur dass es sich dabei um eine Leinwand handelt, die sehr viel mehr Möglichkeiten bietet als eine normale Theaterbühne.

Nathan – Drama-Roman-Vergleich: Vorüberlegungen

Vergleich des Lessing-Dramas „Nathan der Weise“ mit dem Roman von Mirjam Pressler

Das Folgende sind erst mal Projekt-Ideen. Wir bauen das im Laufe der Zeit aus.

Grundidee

Die Grundidee dieser Facharbeit ist, das berühmte Drama „Nathan der Weise“ mit dem auch schon recht bekannten und beliebten Roman von Mirjam „Nathan und seine Kinder“ zu vergleichen.

Dabei geht es auch um inhaltliche Veränderungen, vor allem aber um die Frage: Inwieweit wird im Vergleich besonders gut deutlich, was ein Theaterstück leisten kann und worin die Stärken – und ggf. auch die Schwächen eines Romans liegen, der sich immerhin vom Stück ausgeht.

Grundsätzliche Unterschiede zwischen Drama und Roman

  1. Der entscheidende Unterschied liegt im Erzähler: Er vermittelt im Roman alles, was man zu lesen bekommt, mischt sich dabei vielleicht auch ein oder versteckt sich hinter Figuren – wie es in Presslers Roman gleich am Anfang auffällt.
  2. Im Drama gibt es keinen Erzähler, alles muss von den Figuren im Bühnenbild präsentiert werden.
  3. Und das bedeutet einen im Normalfall einen absoluten Vorrang der Sprache.
  4. Alles, was ein Mensch darüber hinaus noch ausdrücken kann – über Gestik oder Minenspiel, muss eben von den Schauspielern umgesetzt werden, wird nicht erzählt.
  5. Letztlich enthält ein Drama meist auch einen Konflikt, der sich dramaturgisch entfaltet – ein Roman muss so etwas nicht in gleichem Maße haben.
  6. Man kann es auch auf die Formel bringen: Ein Drama gestaltet eben einen Konflikt, ein Roman dafür eine ganze Welt. Von daher wird es besonders spannend sein zu sehen, welche Bereiche der Welt im Roman zusätzlich hinzukommen.

Von daher wird es spannend, die beiden Varianten des Nathan-Ringparabel-Stoffs zu vergleichen.

Vorläufige Auswahl spezieller Untersuchungspunkte

Hier halten wir einfach schon mal die interessantesten Aspekte fest, die uns beim Lesen und Vergleichen aufgefallen sind:

  1. Der Einstieg: Wie überzeugend ist es, im 1. Kapitel mit einer Außensicht zu starten  – statt mit der direkten Konfrontation zwischen dem Heimkehrer Nathan und denen, die den Brand erlebt haben.
  2. Die Vorgeschichte Dajas im 2. Kapitel präsentiert die Kreuzzungsbegeisterung und die extreme Frömmigkeit der Großmutter sehr gut.
  3. Im 3. Kapitel werden die Umstände des traumatischen Verlustes der Familie von Nathan sehr viel deutlicher als an der entsprechenden Stelle im Drama.
  4. Außerdem wird auf Nathans Verhältnis zu Gott viel stärker eingegangen – es erinnert sehr stark an Hiob. Insgesamt merkt man schon deutlich, wie sehr Lessing Religionsfragen zurückgestellt hat zugunsten einer recht optimistischen Aufklärungshoffnung.
  5. Im 4. Kapitel könnte man schauen, ob dort die Engel-Variante nicht schneller verworfen wird als im Drama – und was sich daraus für Veränderungen ergeben bzw. wodurch das vielleicht motiviert ist (etwa geringere Bedeutung von Engeln in unserer Zeit).
  6. Im 5. Kapitel wird es spannend, weil der Tempelritter zum einen sehr viel genauer auf seine traumatische Erfahrung der Ermordung seiner Waffengefährten eingeht,
  7. zum anderen ist die Verlagerung der Verhandlungen mit dem Patriarchen in dessen Schlafzimmer interessant. Hier hat man den Eindruck, dass das geschickte und zugleich manipulative Vorgehen des Patriarchen im Drama sehr viel besser herauskommt.
  8. Auch könnte man noch Beschreibungsteile einbeziehen, die in der Form im Drama nicht präsentiert werden (können) und dann überlegen, welche Intention dadurch wie unterstützt wird.
    Hier bietet sich Rechas Selbstbetrachtung vor dem Spiegel an.
  9. Wir setzen das hier noch fort …

Ausgangspunkt – Anlass für diese Arbeit

Ausgangspunkt für die Idee zu dieser Facharbeit war ein erster Eindruck beim Lesen des Romans. Wir hatten uns vorher intensiv mit dem Theaterstück beschäftigt und dessen Ansatz und Eigenart gewissermaßen wie eine Melodie im Kopf.

Und dann fiel uns gleich am Anfang auf, dass die gleiche Geschichte, nämlich der Brand von Nathans Haus und Rechas Rettung durch den Tempelherrn im Roman völlig anders „überkam“.

Wir werden darauf noch genauer eingehen. Soviel sei hier schon mal festgehalten: Während im Theaterstück der Schrecken, die Erschütterung und dann die Erleichterung Nathans selbst den Leser der Buchausgabe voll erreichen, wirkt die Erzählvariante ziemlich distanziert.

Das ist jetzt kein Vorwurf an den Roman – es ist nur eine Feststellung.

Und was solche Feststellungen angeht, so erhoffen wir uns im Laufe der Arbeit noch einige mehr.

Nutzung des Romans in der Schule

Offen ist die Frage, ob eine intensive Parallel- oder Zweitbeschäftigung mit dem Roman nach der Lektüre und Besprechung des Dramas nicht zu Verwischungen führt. Man weiß dann hinterher möglicherweise gar nicht mehr, ob ein Detail zum Drama oder allein zum Roman gehört.

Vergleich des Dramas „Nathan der Weise“ mit dem Roman von Pressler – Check der Kapitel

Check der einzelnen Kapitel im Hinblick auf Vergleichsmöglichkeiten

Check des 1. Kapitels im Hinblick auf seine Akzente

  1. Perspektive einer erfundenen zusätzlichen Figur. Es geht um einen „Geschem“, der im Personenverzeichnis als „ein Junge im Haus Nathans“ vorgestellt wird.
  2. Er befindet sich „unter dem Maulbeerhaum“ – nur in Sichtweite von Nathans Haus. So bekommt er den Brand mit, will auch helfen, schafft das aber als „armseliger Krüppel“ nicht. Während er sich kriechend auf das brennende Haus zubewegt, bekommt er gerade noch mit, wie der Tempelritter zur Rettung Rechas ins Haus springt.
  3. Dann schläft er erstaunlicherweise ein und träumt vom Feuersbrand.
  4. Als er dann wieder aufwacht, bekommt er von ferne mit, dass Recha nicht verbrannt ist, sondern gerettet worden ist.
  5. Er kriecht dann näher ans Haus heran und bekommt einiges von den Gesprächen dort mit – sowohl die beruhigenden Worte Nathans gegenüber Recha als auch deren Behauptung, von einem Engel gerettet worden zu sein.
  6. Al-Hafi ist dann auch da und berichtet von der wundersamen Rettung eines einzigen Tempelritters durch die Gnade des Sultans.
  7. Außerdem geht es um die erfolgreiche Reise Nathans.
  8. Schließlich rafft sich der Junge, der erst später von Nathan seinen Namen Geschem bekommt, auf, geht ins Haus und hilft in der Küche mit.
  9. Im anschließenden Gespräch mit Nathan wird erzählt, wie dieser Junge eben kurz vor dem Tod durch Entkräftung ins Haus Nathans geholt worden ist.

Auswertungshypothesen zum 1. Kapitel

  1. Was wird durch die Erfindung der zusätzlichen Figur des Geschem erreicht?
  2. Es wird sehr viel „vorerzählt“, was im Drama erst nach und nach – man könnte auch sagen, an der richtigen Stelle, in die Szenen eingebaut wird.
  3. Deutlich wird auf jeden Fall die Wirkung der epischen Breite, die mit einem romanhaften Erzählen verbunden ist. Als jemand der die konzentriere dramaturgische Entwicklung im Drama Lessings kennt, könnte einen manches langweilen.
  4. Damit taucht die Frage auf, was mit diesem Roman überhaupt erreicht werden soll. Es wird ja ganz eindeutig vom alten Drama ausgegangen – und es beginnt gleich mit einer ziemlichen Entfernung davon. Denn der wesentliche Dialog zwischen Recha und Nathan wird ins Indirekte verlagert, was eine erhebliche Distanzierung bedeutet.
  5. Ob der Gewinn an Wirklichkeitswahrnehmung durch die Zeugenschaft Geschems, dass es wirklich ein Tempelritter gewesen ist, darf bezweifelt werden.

Kapitel 2: Dajas Perspektive

  1. Schon mal eine Vorbemerkung: Hier wird schon mal ganz deutlich, worin ein Wert des Romans auf jeden Fall liegt – nämlich in der sehr anschaulichen Beschreibung der Zeitumstände und besonders der Kreuzzugsbegeisterung. Die wird nämlich im Drama stark zurückgestellt, was Lessing die Möglichkeit gibt, die machtpolitischen, gesellschaftlichen und besonders auch religiösen Konflikte stark in den Hintergrund zu verschieben. Weder steht Nathan ja für einen rechtgläubigen Juden – noch der Sultan für einen ebenso rechtgläubigen Muslim – und auch der Tempelritter und der Patriarch stehen nicht für die einfache Rechtgläubigkeit der christlich erzogenenen Volksmassen. Die wird in ihrer strengen, fast menschenfeindlichen Art besonders deutlich in der Beschreibung des Verhaltens von Dajas Großmutter.

Kapitel 3: Elijahus Perspektive

S. 45: Ausführliche Schilderung des für Nathan traumatischen Erlebnisses, seine gesamte Familie ausgelöscht vorzufinden. Die Mörder sind christliche Kreuzritter. Das lässt sich gut vergleichen mit der entsprechenden Stelle im Drama. Hier werden die Schandtaten noch sehr viel stärker und erzeugen entsprechende Betroffenheit beim Leser – sicher mehr als bei den Zuschauern im Drama, die auf andere Dinge konzentriert sind.

Ein möglicher Zusatz des Romans zu dem, was im Drama thematisiert wird, ist die Frage nach Gott. Hier gibt es einige Stellen, die deutlich machen, wie sehr Nathan Gott als etwas Fernes empfindet, dem man nur über Menschen näher kommt. Eine interessante Parallele zu Goethes „Das Göttliche“.

  • S. 48: Im Hinblick auf die kleine Recha, die Nathan übergeben wird:
    „Gott hat mir eines für sieben gegeben“
  • S. 48: „Nur einmal sagte er: Gott ist fern,aber die Menschen sind nah. Glaube mir, Elijahu, das höchste Ziel der Menschen muss die Vernunft sein. Vernunft und die Liebe zu an- deren Menschen.“
  • S. 52: Nathan im Hinblick auf das Schicksal seiner Familie:
    „Es steht zwischen mir und meinem Gott“.
  • S. 52: „Das muss ich mit mir und Gott abmachen.“
  • S. 54: Nathan im Hinblick auf das Schicksal von Geschem, von dem er angesichts seiner unklaren Herkunft glaubt, dass er auch Jude sein könnte, was Elijahu für ketzerisch hält:
    „Ich frage mich manchmal, was uns zu Menschen macht […] Gott ist unerreichbar, und wir können ihm nur dadurch nahe sein, dass wir seine Geschöpfe lieben. Das ist es, was er von uns fordert, und das ist es, was unserem Leben Sinn und Bedeutung gibt.“

Kapitel 4: Rechas Perspektive

  • Insgesamt bringt dieses Kapitel nicht viel mehr als das, was man aus dem Drama schon kennt. Allenfalls das vertiefte Lebensgefühl nach der Erfahrung der Rettung aus Lebensgefahr wäre zu erwähnen.
  • Dazu vielleicht eine Freundin, die offensichtlich unter ihrer Verheiratung leidet.
  • Die Engel-Idee wird dann doch ziemlich schnell überwunden, als sie ihren Retter zumindest von ferne sieht.

Kapitel 5: Die Perspektive des Tempelritters

  • Anders als im Drama ist der Tempelritter von vornherein auf dem Weg zum Patriarchen, um sich eine Aufgabe zuweisen zu lassen.
  • Ausführlich wird sein unehrenhafter Kampf gegen Saladin geschildert, dessen Strafaktion und die eigene unverständliche Rettung, die ihn eher beschämt.
  • Das nutzt der Patriarch aus, als der Tempelritter ihn schließlich – anders als im Drama – in seinem Palast besucht.
  • Wie im Drama lautet allerdings die Forderung, die militärische Situation des Sultans auszuspionieren und ihn ggf. sogar zu töten.
  • Beides lehnt der Tempelritter erst mal empört ab, er wird aber an seinen Gehorsamspflicht gegenüber der Kirche erinnert und bekommt nur Bedenkzeit.
  • Die größte Abweichung zum Drama ist sicher die Beschreibung der Gefühle, die der Tempelritter entwickelt, als sein bester Freund vor seinen Augen hingerichtet wird.
  • Interessant vielleicht noch das Eingangsstatement, in dem der Tempelritter das heilig genannte Land als „Land der Barbarei und des Todes“ (S. 67) bezeichnet.

Kapitel 6: Die Perspektive Al-Hafis

  • Hier gibt es auch vieles, was wir schon kennen: Dieser Al-Hafis war als Bettelmönch am Ganges und ist jetzt aufgestiegen zum Finanzverwalter des Sultans.
  • Allerdings ist er ebenfalls mit einer Art erweitertem biografischen Mantel bekleidet worden: Er ist nämlich ganz nebenbei auch noch ein Vetter Saladins, was natürlich die erstaunliche Rang- und Positionserhöhung eher erklärlich macht, als es im Drama gegeben ist.
  • Außerdem bekommen wir so auch ein paar tiefere Einblick in die Welt der Macht, die im Drama auch nur nebenbei eine Rolle spielt. So bezeichnet Al-Hafis sich im Hinblick auf seine Herkunft als ein „sanfter Vogel unter Falken“ (90). Kurz darauf beschreibt er die zugleich gefährdete wie auch gesicherte Stellung eines mächtigen Herrschers im Verhältnis zu seinem Umfeld: „Saladin ist der absolute Herrscher, ihm darf nichts geschehen, sonst ist das Spiel verloren und allen Beteüigten drohen Untergang und Tod. Sämtliche Figuren auf dem Brett sind gezwungen, dem König zu dienen, damit das Spiel weitergeht, und darauf kann er sich verlassen. Für ihn werden Bauern geopfert, und um ihn zu schützen, versperren Pferde, Läufer und Türme unter Einsatz ihres eigenen Lebens allen Angreifern den Weg. Ein besonderer Auftrag in diesem Spiel ist der Dame zugeteilt. Auch sie schützt den König, dafür ist sie da, aber sie hat mehr Macht als die anderen Figuren, und sie hat mehr Bewegungsraum als der König selbst, dem in alle Richtungen nur ein Schritt auf das nächste Feld bleibt.“ (S. 92)

Kapitel 7: Die Perspektive Dajas II

  • Zum einen wird eine Beerdigung eingeschoben, um den Gang Nathans zu motivieren, bei dem er den Tempelritter trifft.
  • In dem Zusammenhang geht es auch um Rechas Verhältnis zum Tod.
  • Bei der Begegnung zwischen Nathan und dem Tempelritter wird die Verachtung des Christen gegenüber den Juden noch gut grundiert und erklärt durch eine Erinnerung Dajas an ihre Großmutter, die den angeblichen Mord an Jesus als Motiv für ihren Hass gegen Juden genannt hat. Außerdem wird beim Rückblick auf die Erfahrungen in der deutschen Heimat deutlich, wie man mit jüdischen Wanderhändlern umgegangen ist, deren gebückter Rücken ist ein sehr gutes Symbol dafür.
  • Interessant ist auch, wie der Zorn Daja verleitet, dem Ritter ein paar deutliche Worte ins Gesicht zu werfen. Hier wäre zu prüfen, ob das im Gespräch zwischen ihr und dem Tempelritter im Drama auch vorhanden ist, vielleicht weniger deutlich.
  • Erstaunlich ist, wie schulmeisterlich Nathan gegenüber Daja die Beschimpfung des Tempelritters kommentiert.
  • Anschließend gibt es ein erstaunliches Happy End, was man auch mit dem Drama vergleichen müsste, ob da gleich bei der ersten Begegnung mit dem Tempelritter so viel menschlicher Friede ausbricht.
  • Interessant in diesem Zusammenhang auch die Hochschätzung der Vernunft, was die Frage öffnet, ob es hier hier um Menschlichkeit und Herz oder um Vernunft geht.
  • Tatsächlich findet der Besuch des Tempelritters im Hause Nathans auch direkt im Anschluss statt und es wird in bestem Einvernehmen eine überaus menschliche Zukunftsvision entwickelt. Interessant, dass die Köchin hier sehr viel realistischer ist und auf lange Zeiträume verweist. Auch das könnte man als eine Diskussionsfrage im Unterricht aufnehmen.
  • Am Ende des Kapitels gibt es denn noch zwei interessante Elemente, zum einen eine sehr biologische Beschreibung der Anziehungskraft zwischen Mann und Frau, die direkt verglichen wird mit dem, was sich zwischen Tieren abspielt.
  • Dann gibt es am Ende einen Hinweis auf die bevorstehende Gottesfrage. Es geht nämlich darum, in den Händen welchen Gottes das Schicksal des Menschen liegt.

Kapitel 8: Die Perspektive Rechas II

  • Hier gibt es eine ausführliche Selbst-Beschreibung Rechas vor dem Spiegel,
  • die so kaum in einem Theaterstück möglich wäre und
  • auch in Lessings Stück keine Rolle spielt.

Kapitel 9: Die Perspektive Sittahs

  • Sehr viel ausführlicher als im Theaterstück werden hier die verschiedenen Aspekte der Verhandlungen zwischen Saladin und Richard Löwenherz behandelt,
  • vor allem, soweit sie das Schicksal Sittahs betreffen, die einen aus der englischen Königsfamilie heiraten soll.
  • Es zeigt sich dann, dass es sich nur um einen Trick gehandelt hat, mit dem die Kreuzfahrer Zeit gewinnen wollten.
  • Überhaupt spielen Kriegsereignisse eine große Rolle, so etwa der Kampf um Akko, vor allem aber die Grausamkeit, mit der nach ihrem Fall den Bewohnern begegnete (2700 tote Krieger und 300 tote Frauen und Kinder).
  • Jetzt soll ein Gegenangriff gestartet werden, für den man Geld braucht und dafür hat man – wie im Theaterstück – die wohlhabenden Juden im Auge. In diesem Zusammenhang ist es der von der Autorin hinzuerfundene Hauptmann Abu Hassan, der diesen Reichtum mit Gewalt nehmen will, was Saladin allerdings ablehnt.
  • Deutlich wird aber auch, welche religiöse Bedeutung Jerusalem für die Muslime hat („…denn zu ihr hat unser Prophet seine wunderbare nächtliche Reise unternommen und dort wird unsere Gemeinschaft am Tag des Jüngsten Gerichts versammelt sein.“(S. 123)
  • Außerdem geht Sittah ausführlich auf ihr Verhältnis zu ihrem Bruder Saladin ein.
  • Ihr Verhältnis zu Machmud hält sie aber vor ihrem Bruder geheim.

Kapitel 10: Die Perspektive Abu Hassans

  • Diese Figur ist vor allem hinzugefügt worden, weil sie die radikale muslimische Gesinnung deutlich werden lässt, die bei Lessing weitgehend ausgeblendet wird.
  • Dazu gehört sogar, dass dieser Hauptmann sogar an einer Verschwörung gegen Saladin beteiligt ist – weil der zu gemäßigt auftritt und den Ausgleich mit den Christen will.
  • Interessant ist an dieser Stelle, dass im Roman mit Abu Hassan auch eine ausgeprägte Judenfeindschaft verbunden ist und eine wichtige Stelle aus dem Koran zitiert wird, die den Muslimen jede Freundschaft mit Christen oder Juden verbietet.
    Verwiesen sei hier auf eine relativierende Sicht der Sure 5, Vers 51, durch eine heutige Islamwissenschaftlerin.
  • Ansonsten werden viele muslimische Siege über die Kreuzritter näher vorgestellt, allerdings wird Saladin vorgeworfen, das nicht ausgenutzt zu haben, um auch die wichtige Stadt Tyrus einzunehmen, die später den Kreuzrittern immer als Brückenkopf diente.
  • Außerdem wird kritisiert, dass Saladin nach der Einnahme Jerusalems wieder viel zu großzügig gegenüber den Besiegten gewesen sei.
  • Am Ende wird noch mal betont, wie wichtig die Ausschaltung Saladins sei – als neuer Herrscher komme nur sein Bruder Melek in Frage.

Kapitel 11: Die Perspektive des Tempelritters II

  • Im Unterschied zum Drama ist der Tempelritter gleich ganz begeistert von Recha – so dass recht moderne Liebessehnsüchte präsentiert werden.
  • Außerdem werden wir über die Herkunft des Mannes informiert – das kommt nicht am Schluss in sich langsam ergebender Auflösung, sondern es wird einfach erzählt.
  • Hier geht also viel dramatische Spannung verloren.
  • Andererseits wird das sehr viel deutlicher, was in Lessings Drama ausgeblendet wird, nämlich die praktischen Begleit-Schäden einer solch „unehrlichen“ (wie man damals dachte) Existenz – das wird sehr schön herausgearbeitet an der quälenden Wendung: „Einer wie du …“. Sie bedeutet nichts anderes, als dass dieser Ritter zwar einen Vater bekommen hat, der aber in Wirklichkeit nicht sein Vater, sondern sein Onkel ist.
  • Als Leser, der Lessings Drama schon kennt, ist man gespannt, was von der Ringparabel und von der Idee der Menschheitsfamilie am Ende noch übrig bleibt.
  • Am Ende erinnert sich der Tempelritter doch wieder an sein Gelübde, wodurch die Anfangsverliebtheit in Frage gestellt wird.
  • Das Kapitel endet damit, dass Daja auftaucht und dringend mit dem Tempelritter reden möchte. Sie verabreden sich für den Abend.

Kapitel 12: Die Perspektive Al-Hafis II

  • Rückblick auf den Besuch Nathans beim Sultan – mit der Ringparabel.
  • Al-Hafi soll soll im Auftrag Sittahs Nathan zum Sultan bringen und erinnert sich:
  • „Ich sah, wie alle erschraken, und ich konnte sie gut verstehen: Zum mächtigsten Mann der Welt gerufen zu werden, bedeutet immer eine Gefahr.“ (155)
  • Nathan bleibt allerdings relativ cool und sagt nur: „Das habe ich erwartet.“ (155)
  • Die anschließende Szene mit der Ringparabel entspricht weitestgehend dem, was man aus dem Theaterstück Lessings kennt, allerdings wird der Verlauf aus der Sicht Al-Hafis wie ein Schachspiel präsentiert, bei dem am Ende Nathan gewinnt.
  • Allerdings wird im Verlauf durchaus die Gefährlichkeit des Vorgangs deutlich, etwa wenn Al-Hafi beim Sultan ein „hinterhältiges Lächeln“ (158) sieht.
  • Am Ende zeigt sich dann Saladin doch wieder als der jenige, als den ihn sein Vetter auch kennt: „Tränen standen ihm in den Augen, er war noch immer so leicht zu rühren wie als Knabe, und ich wusste wieder, warum ich ihn früher geliebt hatte, nicht nur gefürchtet.“ (164)
  • Unabhängig davon sieht Al-Hafi aber auch das Problem: „Nathan, dachte ich, du hast gewonnen, aber es ist ein gefährlicher Sieg.“ (164). Umso mehr ist er froh, dass sein Freund dann auf den guten Gedanken kommt, unabhängig von diesem Ausgang des Spiels dem Sultan Geld anzubieten, was ja der eigentliche Ausgangspunkt des Ganzen war.
  • So endet das Ganze dann auch sehr harmonisch. Der Sultan erklärt: „Nathan, ich danke dir. Lass uns Freunde sein.“ (165)
  • Nathan selbst äußert sich am Ende dann aber relativ zurückhaltend:
    „Du irrst dich, mein Freund. Es war kein Sieg, es war höchstens ein Remis. Es war nur eine Geschichte, nur ein Traum. […] Ich habe einen Traum, dass sich eines Tages die Menschheit erheben und die wahre Bedeutung ihres Glaubensbekenntnisses ausleben wird. Ich habe einen Traum, dass eines Tages die Söhne von Juden, Muslimen und Christen miteinander am Tisch der Brüderlichkeit sitzen können. […] Aber es ist nur ein Traum. Die Wirklichkeit ist eine andere.“ (166)

Kapitel 13: Die Perspektive Dajas III

  • In diesem Kapitel präsentiert sich Daja als jemand, der „plötzlich von einem bösen Geist besessen“ ist (167)
  • Das hängt mit ihrem Treffen mit dem Tempelritter zusammen: „Es war, als hätte in meinem Inneren die Sehnsucht auf der Lauer gelegen […] Die Sehnsucht nach einem milderen Licht, nach weicheren Schatten, nach einer Sonne, die nicht jeden Tag schien, nach kaltem Wind und sogar nach Frost.“ (170)
  • Und so passiert es dann auch, dass sie, als der Tempelritter bedauert, dass Recha eine Jüdin ist, deren Geheimnis verraten wird, dass sie nämlich eine Christin ist und Nathan gar nicht ihr Vater. Anschließend ist Daja erschrocken, dass ihr das herausgerutscht ist und sie bittet den Tempelritter, das zu vergessen, bevor sie davon läuft. Sie weiß aber auch: „Worte, die einmal ausgesprochen sind, lassen sich nicht mehr zurücknehmen (175)
  • Interessant ist eine längere Passage in der Daja beschreibt, wie sehr zwei Stimmen und damit auch zwei Positionen in ihr kämpfen, einmal ihre Treue gegenüber Nathan, zum anderen aber eben auch ihr sehnlicher Wunsch, wieder in ihre alte Heimat zu kommen und zwar zusammen mit Recha und dem Tempelritter, um entsprechend versorgt zu sein. Das ist ein klassisches Beispiel für die Theorie vom Inneren Team.
    https://de.wikipedia.org/wiki/Inneres_Team

Kapitel 14: Die Perspektive des Tempelritters III

  • In diesem Kapitel zeigt sich der Tempelritter „gejagt und gehetzt“ und er stellt bei sich fest: „In meinen Ohren klangen die Dajas Worte mal als leises, verheißungsvolles Flüstern, dann wieder als gellende Herausforderung.“ (176)
  • In einem inneren Gespräch mit dem toten Helmfried bittet der Tempelritter: „Ich war zu jung, du musst mich von meinem Gelübde lossprechen, du musst …“ (177)
  • Auch in seiner Unterkunft findet er keine Ruhe: „Meine Lippen murmelten das Vaterunser, aber meine Gedanken hört nicht auf, im Zickzack durch meinen Kopf zu rasen, von einer Schläfe zur anderen, von der Stirn zum Hinterkopf und wieder zurück. Sie fühlten sich an die Blitze, gefangen in einem Eisenkäfig, und auch mein Kopf schmerzte, als hätte ein Blitz in ihn geschlagen. Enttäuscht und verzweifelt gab ich es auf und erhob mich.“ (178)
  • Ihm kommen entsprechen dem, was sein toter Freund Helmfried ihm gesagt hat, seine Hoffnungen wie eine Fata Morgana vor: „So ist es mit allem irdischen Glück, mein Sohn, du hetzt ihm hinterher und kannst es nie wirklich greifen. Drum hüte dich vor falschen Begierden und strebe nur nach der ewigen Seligkeit, die dir dein Gott im Himmel versprochen hat.“ (179)
  • Dann taucht Recha vor seinem inneren Auge auf und es wird deutlich, wie sehr er sich nach ihr sehnt (vgl. Seite 180).
  • Schließlich hält er es für eine rettende Idee, zum Patriarchen zu gehen und sich von dem hohen christlichen Würdenträger in der Angelegenheit beraten zu lassen.
  • Auf Seite 181 gibt es dann noch eine sehr interessante Stelle, die deutlich macht, dass der Tempelritter bei den Menschen jetzt keine Unterschiede mehr sieht nach der Herkunft.“
  • Ab Seite 182 wie wird denn das Gespräch mit dem Patriarchen geschildert, der zunächst einmal wissen will, wie es mit der geforderten Spionagetätigkeit des Tempelritters aussieht. Als der daraufhin deutlich macht, dass er das nicht könne, reagiert der Patriarch zwar zunächst milde, verweist dann aber immer stärker auf die religiösen Pflichten gegenüber der Kirche.
  • Dann kommt er auf den Anlass des Besuchs zu sprechen und wird sehr heftig wie auch im Drama, als er hört, dass ein Jude ein Christenmädchen seiner Religion entfremdet hat. Hier fehlt allerdings das hammerartige wiederholen immer derselben Verurteilungsformulierung.
  • Schließlich verlässt der Tempelritter fast fluchtartig den Palast des Patriarchen und auf seinem weiteren Weg wird er dann konfrontiert mit einer extremen Tierquälerei, bei der ein angebundener Hund von Kindern regelrecht gesteinigt wird. Der Tempelritter greift nicht ein, stellt aber fest: „Was für ein grausames Land …“ (188)
  • Dieses Erlebnis führt aber letztlich dazu, dass die inneren Mahnungen seines ehemaligen Freundes übertönt werden und er ihm schließlich sagen kann: „Sei still, Helmfried, sagte ich. Das geht dich nichts mehr an, du bist tot.“ (189)
  • Das Kapitel endet damit, dass der Tempelritter sich in seiner Not beim Sultan Hilfe holen will, ihm geht es dabei vor allen Dingen auch darum, „Nathan vor der Rache des Patriarchen zu schützen“ (189).

Kapitel 15: Geschem findet auf der Reise nach Jericho zu seiner Identität

  • Geschem darf Nathan und Eliaju auf einer Reise nach Jericho begleiten
  • und fühlt sich erstmals richtig fern dem Elend, aus dem er gekommen ist.
  • Am Ende hat er nicht nur einen Namen in einer arabischen und einer jüdischen Variante, sondern er entscheidet sich für die letztere.

Kapitel 16: Recha erfährt die Wahrheit über ihre Herkunft

  • Daja erzählt Recha von ihrer Begegnung mit dem Tempelritter, bei der sie Nathans Geheimnis und Rechas Herkunft aus einem Impuls heraus verraten hat.
  • Als Motiv nennt Daja ihre Sehnsucht nach der Heimat in Europa und ihre Hoffnung, bei einer Heirat Rechas und des Tempelritters mitgenommen zu werden.
  • Die Wahrheit über ihre christliche Herkunft führt bei Recha zu einem Identitätsproblem: „Gehörte ich nicht mehr zu meinem Volk …“ (208).
  • Sie will Jüdin bleiben: „Hier bin ich aufgewachsen, von hier lasse ich micht nicht vertreiben.“ (210)
  • Aber sie stellt auch eine Verbindung mit dem Tempelritter in Frage: „… und was war seine Liebe wert, wenn sie davon abhing, welche Religion ich hatte?“ (210)
  • Ab S. 271 nimmt Recha dann die vielen, vor allem armen, Kinder in Jerusalem erstmal wahr und freut sich anschließend, dass Geschem zumindest aus diesem Elend erlöst worden ist und jetzt sogar schreiben und lesen kann.
  • Gemeinsam machen sie sich klar, wie wichtig die Kenntnis der Herkunft oder zumindest der Besitz eines Namens für einen Menschen ist (vgl. 214)
  • Recha übernimmt auch die Gottesvorstellung Nathans, nach der Gott oder Allah nur verschiedene Namen seien – entscheidend seien „die Liebe zu Gott und die Liebe zu den Menschen. Und die Dankbarkeit für das Leben“ (215).
  • Nach dem Gespräch fühlt sich Recha erleichtert: „Mein Unglück schien mir plötzlich weniger groß als vorher, ich war nicht mehr so allein.“ (216)

Kapitel 17: Elijahu erzählt von der Ermordnung Nathans

  • Der Schluss des Romans ist völlig anders als in Lessings Drama.
  • Auf der Rückkehr von einem Besuch beim Sultan, bei dem er wertvolle Waren gut verkaufen kann und viel Geld mitnimmt, wird er überfallen, beraubt und ermordet.
  • Viel spricht dafür, dass der Anstifter jeder fanatische Muslim ist, der als Hauptmann in der Armee des Sultans dient und zugleich gegen ihn arbeitet.

Kapitel 18: Rechas Bericht über die Zeit nach Nathans Tod

  • Neben der Trauer
  • steht die Hoffnung auf eine bessere Zeit in der Zukunft im Mittelpunkt, die bei einem Besuch des Tempelritters mit Nathan besprochen wurde (vgl. 235).
  • Recha will keine Rache, nicht mal eine Bestrafung der Täter, sondern das Andenken an Nathan ehren und in seinem Sinne weiter wirken.
  • Al-Hafis verweist auf die Bedeutung der Ringgeschichte, die noch lange im Gedächtnis der Menschen bleiben werde.
  • Am Ende kommt es zu einem langen Gedankenaustausch zwischen Recha und dem Tempelritter, der es nahelegt, dass beide den Sohn in die Welt setzen werden, der dann nach Nathan benannt werden soll und den sie lehren will, „dass es nichts Größeres auf dieser Welt gibt als Liebe und Barmherzigkeit.“ (242)

Aussageschwerpunkte (Intentionalität) des Romans

  1. Deutlich ist, dass der Roman ein sehr viel breiteres Bild der Welt präsentiert, zum Beispiel auch das Elend der Kinder und die Bösartigkeit mancher Menschen einbezieht.
  2. Realistischer erscheint auch das Bild des Herrschers, der eben durchaus auch unberechenbar und gewalttätig sein kann, was die Gefahr, in der Nathan sich vor seiner Idee mit der Ringparabel befindet, deutlich größer erscheinen lässt.
  3. Auch wird die fanatische Seite der Religionen deutlicher, etwa in der Großmutter Dajas oder eben in diesem Hauptmann Abu Hassan.
  4. Dafür ist die Gestalt des Tempelherrn  viel weniger arrogant und abweisend gezeichnet, er wirkt selbst mehr als Opfer, denn als Täter.
  5. Im Unterschied zum Drama wird darauf verzichtet, Recha jetzt auch noch in ein Verwandtschaftsverhältnis zum Sultan zu bringen. Damit wird ein Kernproblem des Dramas aus der Welt geschafft, in dem ja die Liebe zwischen Recha und dem Tempelherrn am Ende reduziert wird auf ein Geschwisterlichesverhältnis. Im Roman bleibt für die beiden die Option eines gemeinsamen partnerschaftlichen Lebens offen.

Weiterführende Hinweise

  • Wird fortgesetzt …

Ansonsten schon mal der Hinweis auf weitere Angebote auf unseren Seiten und auf Youtube:

  • Ein alphabetisches Gesamtverzeichnis unserer Infos und Materialien gibt es hier.
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Amerikanische Revolution – Französische Revolution – Vergleich – Hannah Arendt

Vergleich der Amerikanischen mit der Französischen Revolution

Wenn man die Amerikanische mit der Französischen Revolution vergleichen will, sollte man unbedingt auf ein Buch von Hannah Arendt zurückgreifen. Zu dem gibt es in der Wikipedia eine sehr gute Zusammenfassung.

https://de.wikipedia.org/wiki/%C3%9Cber_die_Revolution

Wir stellen hier einige wesentliche Punkte kurz vor:

  1. Hannah Arendt sieht in den beiden Revolutionen etwas völlig Neues,
    1. nämlich das Bemühen um Freiheit.
    2. So etwas gab es vorher in dem Maße nicht,
    3. es war auch durch die herrschende Religion schwierig.
    4. Man könnte allerdings prüfen, ob nicht die Englische Revolution des 17. Jhdts. auch schon solche Elemente enthielt, aber gerade religiös motiviert war.
  2. Interessant ist die These, dass die Besiedlung Nordamerikas die Revolution beförderte, weil es dort so etwas wie Freiheit in stärkerem Maße schon gab.
  3. In beiden Revolutionen sieht Arendt einen Widerspruch zwischen den Zielen und den Ergebnissen.
  4. Im Falle der Französischen Revolution ist das besonders schrecklich, weil mit Robespierre eine Idee aufkam, die das Lebensrecht des Einzelnen völlig unter die Herrschaft einer Ideologie und ihrer Vertreter stellte.
  5. Interessant auch der Hinweis, dass die weitgehend politische erst mal gescheiterte Französische Revolution sehr folgenreich war, während das für die erfolgreiche Amerikanische nicht in gleichem Maße gilt.

Weiterführende Hinweise

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Eichendorff, „Rückkehr“ – ein Gedicht ohne großen Zusammenhang?

Vorab-Kritik: Ein Schnellschuss?

Ausnahmsweise beginnen wir die Interpretation eines Gedichtes tatsächlich mit einem persönlichen Bekenntnis, weil wir viel gelitten haben.

Wir haben eine hohe Meinung von Gedichten und besonders auch von Eichendorff. Wir wissen aber auch, dass jeder Mensch und damit auch jeder Schriftsteller Höhen und Tiefen kennt.

Also stellen wir hier einfach mal die These auf, dass dieses Gedicht unseren Ansprüchen nicht so recht genügen kann. Wir können uns des Gefühls nicht erwehren, dass das Gedicht ein bisschen „hingeklatscht“ ist, sehr nach einem Schnellschuss aussieht.

Nun haben auch solche Gedichte ihre Berechtigung – das ändert aber nichts an der Enttäuschung derer, die von ihren Mitmenschen und damit auch von Schriftstellern mehr erwarten.

So, jeder kennt nun unsere Vor-Urteile gegenüber diesem Gedicht. Und damit gibt es auch eine gute Grundlage, das selbst zu prüfen und uns ggf. zu widersprechen.

Unsere Sicht auf das Gedicht

Joseph von Eichendorff

Überschrift und 1. Strophe

Rückkehr

01 Wer steht hier draußen? — Macht auf geschwind!
02 Schon funkelt das Feld wie geschliffen,
03 Es ist der lustige Morgenwind,
04 Der kommt durch den Wald gepfiffen.

  • Das Gedicht beginnt mit einer etwas unklaren Kommunikationssituation.
  • Am Anfang steht eine Frage, die nur aus dem Inneren eines Hauses kommen kann. Die Antwort wiederum kann hier nur von jemanden kommen, der draußen steht und rein will.
  • Dann gibt es drei Sprecher-Hinweise, die die Welt draußen sehr positiv darstellen, es geht um die Schönheit der Natur, die auch aus der menschlichen Perspektive mit einer positiven Geisteshaltung verbunden wird. Dazu kommt beim Wind das Element der Geschwindigkeit.
  • Wenn man das hermeneutische Modell anwendet und sich fragt, wie es mit dem Verständnis des Gedichtes am Ende der ersten Strophe aussieht, weiß man hier noch nicht so richtig, woran man ist.
  • Man könnte glauben, dass draußen jemand steht, der einen zum Aufbruch, zum Beispiel zu einer Wanderung aufruft. Dagegen spricht aber natürlich die Überschrift „Rückkehr“.

2. Strophe

05 Ein Wandervöglein, die Wolken und ich,
06 Wir reis’ten um die Wette,
07 Und jedes dacht‘: nun spute dich,
08 Wir treffen sie noch im Bette!

  • Die zweite Strophe präsentiert dann eine Art Rückblick auf eine intensive Reisetätigkeit.
  • Verbunden wird das mit dem Aspekt der Schnelligkeit, fast schon der Rastlosigkeit. Aus irgendeinem Grunde will das lyrische ich Irgendwelche anderen Leute überraschen, die nicht so früh auf sind wie es selbst.

3. Strophe

09 Da sind wir nun, jetzt alle heraus,
10 Die drinn noch Küsse tauschen!
11 Wir brechen sonst mit der Tür in’s Haus:
12 Klang, Duft und Waldesrauschen.

  • In dieser Strophe wird dem Leser nun das Ziel dieses schnellen Aufbruchs präsentiert, nämlich irgendwelche anderen Menschen, die eher noch mit der Liebe beschäftigt sind.
  • Verbunden wird das mit einer wahrscheinlich freundlich gemeinten Bereitschaft auch zur Gewalttätigkeit, wenn die Tür nicht schnell genug geöffnet wird.
  • Die Schlusszeile präsentiert dann einfach drei schöne Aspekte, die mit dem Wandern verbunden sind.

4. Strophe

13 Ich komme aus Italien fern
14 Und will Euch alles berichten,
15 Vom Berg Vesuv und Roma’s Stern
16 Die alten Wundergeschichten.

  • Diese Strophe passt dann am besten zur Überschrift, weil das lyrische Ich sich dort tatsächlich in die Situation eines Rückkehrers versetzt.
  • Es geht um das Sehnsuchtsland der Deutschen, von dem es berichten will, und schöne Örtlichkeiten werden dann gleich auch im romantischen Sinne mit alten „Wundergeschichten“ in eine Beziehung gesetzt – oder so verbunden.

5. Strophe

17 Da singt eine Fey auf blauem Meer,
18 Die Myrthen trunken lauschen —
19 Mir aber gefällt doch nichts so sehr,
20 Als das deutsche Waldesrauschen!

  • Die letzte Strophe geht dann in den ersten beiden Zeilen auf typisch romantische Motive und Gefühle ein,
  • macht aber dann in den letzten beiden Zeilen deutlich, dass es mehr an der deutschen Heimat hängt, mit Betonung der Bedeutung des Waldes.

Zusammenfassung

  • Insgesamt ein irgendwie sehr unstrukturiert wirkendes Gedicht, dessen Bestandteile man nur mühsam zu einem zusammenhängenden Inhalt verarbeiten kann.
  • Nicht ungefähr wird diesem Gedicht bei weitem nicht die Bedeutung zugesprochen, wie sie das andere Gedicht mit dem gleichen Titel von Eichendorff hat.
  • Insgesamt zeigt das Gedicht ein Nebeneinander von typisch romantischen Motiven und ein bisschen Fernweh, um am Ende dann ganz eindeutig eine Priorität zu setzen.
  • Sehr bedauerlich ist, dass die Schlusspointe in keiner Weise aus dem Gedicht heraus motiviert wirkt und auch ansonsten nicht weiter begründet wird.
  • So bleibt beim Leser der Eindruck eines etwas gedankenarmen Schnellschusses. Gerade der Vergleich mit dem anderen Rückkehr-Gedicht zeigt, wozu Eichendorff wirklich fähig ist.

Vergleich mit Grünbein, „Kosmopolit“

Im Rahmen des Abiturs 2020 war das Gedicht von Eichendorff, mit einem von Grünbein zu vergleichen.

Wir haben es hier behandelt.

Ohne darauf genauer eingehen zu wollen, haben wir den Eindruck, dass beide zum gleichen Ergebnis kommen, dass nämlich die echte Welt zunächst oder überhaupt die ist, in der man aufgewachsen ist.

Eichendorff begründet das nur nicht näher, während Grünbein ausführlich, wenn auch in zum Teil schwierigen Bildern auf die Probleme hinweist, wenn man zwar zwischen verschiedenen Welten pendelt, allerdings ohne wirklich auch dort heimisch zu werden.

Weiterführende Hinweise

  • Weitere Beispiele für erfolgreiches Verstehen von Gedichten finden sich hier.
  • Weitere Beispiel für Gedichte zum Thema „Reisen“, „Unterwegssein“ oder auch „Fremdsein“: hier
  • Ein alphabetisches Gesamtverzeichnis unserer Infos und Materialien gibt es hier.
  • Eine Übersicht über unsere Videos auf Youtube gibt es hier.

Durs Grünbein, „Kosmopolit“ oder die Frage: Was ist mit dem Titel?

Je schwieriger das Gedicht, desto wichtiger die Methode

  1. Wenn wir Gedichte interpretieren, dann immer „induktiv“ mit „hermeneutischer Kontrolle“.
    1. „Induktiv“ heißt dabei, dass wir uns Zeile für Zeile durcharbeiten und dabei schauen, was zusammenpasst und eine Aussage und vielleicht sogar Sinn erkennen lässt.
    2. „Hermeneutisch“ heißt, dass man immer wieder das Verständnis anpasst. Am Anfang hat man ein „Vor-Verständnis“ – und dann beginnt man eine Art Gespräch mit dem Text. Der liefert das, was das Lyrische Ich von sich gibt. Und wir als Interpreten melden dem Text gewissermaßen zurück, wie wir das verstehen. Jetzt kommt natürlich der Punkt, dass wir die Antwort des Textes auf unser aktuelles Verständnis mit ihm selbst überprüfen müssen. Denn der Text kann ja nicht mehr reden, als der Autor ihm ein für allemal mitgegeben hat.
    3. Insgesamt haben die beiden Methoden den Vorteil, dass man ganz nah am Text ein Verständnis aufbaut und das immer wieder am Text kontrolliert.
    4. Wenn wir dabei ordentlich arbeiten, kann kein Deutschlehrer der Welt das, was rauskommt, zurückweisen. Es kann höchstens sein, dass wir nicht genau genug hingeschaut haben. Aber das kann man natürlich üben.
    5. Übrigens spielt bei der Interpretation des Gedichtes der Autor überhaupt keine Rolle. Was er geschrieben hat, hat er geschrieben – und nur das ist Literatur. Alles, was man sonst noch aus seiner Biografie o.ä. weiß, ist „Literaturgeschichte“. Denn dann wird ein literarisches Werk zu einem Zeitdokument. Kunst und eben auch Literatur ist aus Prinzip zeitlos, weil ja der berühmte Satz gilt: „Kunst entsteht im Auge des Betrachters.“ Und wir lassen dem Autor natürlich seinen Anteil und machen daraus: „Kunst entsteht (endgültig erst) im Auge des Betrachters und das Verständnis ändert sich deshalb auch ständig.“

Durs Grünbeins Gedicht „Kosmopolit“ als Herausforderung

  1. Ein schönes Beispiel für eine Herausforderung ist das Gedicht „Kosmopolit“ von Durs Grünbein.
  2. Man findet es zum Beispiel auf der Seite: (wir gehen davon aus, dass es dort mit Zustimmung des Autors veröffentlicht worden ist!)
    https://www.lyrikline.org/de/gedichte/kosmopolit-75

Induktives Signal Nr. 1: Die Überschrift

  1. Wenn man die Überschrift des Gedichtes liest und ein bisschen weiß, in welchem Zusammenhang dieses Wort verwendet wird. Dann hat man schon ein erstes Vor-Verständnis von dem, was das Gedicht behandelt.
    1. Es geht offensichtlich um einen Menschen, der sich der ganzen Welt nahe fühlt, global denkt und wahrscheinlich auch gerne reist und in andere Kulturen eintaucht.
    2. Im Duden wird das Wort zum Beispiel mit „Weltbürger“ übersetzt:
      https://www.duden.de/rechtschreibung/Kosmopolit
    3. Wikipedia ist dann noch ein bisschen genauer, indem „Kosmopolit“ mit „Kosmopolitismus“ verbunden wird – und dafür wird die Erklärung geliefert:
      Kosmopolitismus (von griechisch κόσμος kósmos ‚Weltordnung, Ordnung, Welt‘ und πολίτης polítes ‚Bürger‘), auch Weltbürgertum, ist eine philosophisch-politische Weltanschauung, die den ganzen Erdkreis als Heimat betrachtet. “
      https://de.wikipedia.org/wiki/Kosmopolitismus

Die ersten beiden Zeilen des Gedichtes

  1. überraschen den Leser dann allerdings. Das Lyrische Ich geht vom extremsten Fall des Kosmopolitendaseins aus, nämlich von der weitesten Reise.
  2. Und am Tag darauf, behauptet es, dass ihm klar geworden sei, vom Reisen nichts zu verstehen.
  3. Damit wird natürlich eine sehr große Spannung aufgebaut, weil hier etwas Überraschendes und auf den ersten Blick Unverständliches präsentiert wird.
  4. Denn auf jeden Fall ist klar, dass der „Kosmopolit“ des Gedichtes nicht zu Hause von der Ferne träumt und vielleicht viele Bücher über ferne Welten liest oder auch mit vielen Menschen in anderen Kulturen Kontakt hält, sondern er ist immer wieder unterwegs gewesen.
  5. Unverständlich muss dem Leser hier erscheinen, dass jemand, der immer gereist ist, angeblich vom Reisen nichts versteht. Das kann nur als Provokation gemeint sein, denn wer viel reist, versteht automatisch etwas vom Reisen. Allenfalls macht er eine neue Erfahrung, wird ihm plötzlich etwas klar – aber dann würde man das anders formulieren.

Die Zeilen 3-6: Negativ-Erfahrungen beim Reisen

Im folgenden

    1. wird eine Kette von Eindrücken und Erfahrungen zusammengestellt, die man bei einem Kosmopoliten nicht vermutet, sondern eher bei einem, der seinen ersten Fernflug angetreten hat.
      Keiner, der immer wieder geflogen ist, wird im Bekanntenkreis als neue Erfahrung verkaufen:
      „Im Flugzeug eingesperrt, stundenlang unbeweglich“.
      Die ironische Reaktion wäre sicher: „Du, das ist mir aber jetzt absolut neu.“
    2. Auch die Feststellungen,
      1. „Unter mir Wolken, die aussehn wie Wüsten, / Wüsten, die aussehn wie Meere, und Meere, / Den Schneewehen gleich, durch die man streift“
        passen irgendwie nicht zu den plötzlichen Erkenntnissen eines Weltreisenden. Das gehört eher in eine Reportage – als allgemeine Erfahrung des Reisens würden sie wohl nicht so gut ankommen.
      2. Und ob Wolken wirklich aussehen wie Wüsten, mag jeder selbst beurteilen.
      3. Und wenn man bei Wüsten an Meere denkt, ist das in der Regel schon farblich ein Problem.
      4. Und Meere aus dem Flugzeug mit Schneewehen zu vergleichen, dürfte schwer nachzuvollziehen sein.
      5. Insgesamt hat man den Eindruck, dass dieses weit gereiste Lyrische Ich etwas Probleme hat mit der Auswahl seiner Eindrücke und deren Schilderung.
      6. Außerdem fragt sich der aufmerksame Leser sicher, ob es zum Begriff des „Kosmopoliten“ vor allem gehört, sich mit dem Fliegen zu beschäftigen. Wenn man das früher als Schüler in einem Aufsatz gemacht hätte, würde der Lehrer wohl „Thema verfehlt“ an den Rand schreiben.
        Aber ein Dichter ist ja glücklicherweise kein Schüler und darf erst mal alles.
      7. Wir behalten aber schon mal im Auge, dass in den ersten sechs Zeilen keine Rede ist von fremden Kulturen und vielleicht auch der Freude, dort etwas zu erleben und sich davon innerlich bereichern zu lassen.
        Und wäre es ein Vortrag, die Zuhörer wären sicher enttäuscht oder besonders gespannt auf das, was jetzt noch kommt. Und die Zeilen laufen gewissermaßen und werden immer weniger.

Zeile 7 und 8: Der „Narkose“-Hammer

    1. Bis zur Zeile 6 hat sich beim Leser „rezeptionsästhetisch“ eine gewisse Antihaltung gegen dieses Lyrische Ich aufgebaut, eine Enttäuschung. Man hat das Gefühl hat, dass hier etwas nicht passt, dass einem etwas vorgeführt wird, was mit der Realität so nicht viel zu tun hat, wenn man von der Überschrift des Gedichtes ausgeht.
    2. Natürlich mag es Vielflieger und auch Kosmopoliten geben, die irgendwann das Reisen leid sind. Aber dann hätte man doch gerne etwas erfahren über das Verhältnis dieses Leidens zur kosmopolitischen Lust an der Ferne und am Anderen.
      Das Gedicht heißt ja nicht „Der Ex-Kosmopolit“.
      Auch wird sich ein solches Leiden eher langsam einschleichen und das harsche Urteil, das hier gefällt wird, hat dann eine lange Vorgeschichte.
    3. Am fragwürdigsten ist dann das Bild der „Narkose“.
      1. Wenn wir uns recht erinnern, unsere letzte Operation liegt glücklicherweise lange zurück, dann war die „Narkose“ ein unter Umständen unangenehmer Aussetzer und der größte Wunsch war, wieder in die Normalität des Lebens zurückzukehren.
      2. Wenn ein Mensch nach einer Narkose anders denkt als vorher, muss er sich wohl ernsthafte Sorgen um seinen Gesundheitszustand machen, falls er das noch kann.
      3. Wir würden hier eher an das Abnehmen einer Brille mit einem bestimmten Filter denken, der uns dann die Realität anders wahrnehmen lässt.
      4. Interessant auch die Veränderung, die das Lyrische Ich an sich wahrnimmt: Es weiß jetzt, was es heißt, „über Längengrade zu irren“. Das muss aber in der Narkose ein besonders übler Traum gewesen sein. Normalerweise passiert so etwas eher im Schlaf.
      5. Da das Irren auf jeden Fall etwas Negatives sein, können wir nur annehmen (als Hypothese), dass die „Narkose“ hier auf besondere Weise bildlich gemeint ist, nämlich im Sinne eines eigenen Verständnisses des Vorgangs.

„Narkose“ heißt dann vielleicht nur, dass das Lyrische Ich irgendwie krank war bei all dem, was es als „Kosmopolit“ bisher getan hat und jetzt gewissermaßen gesund aufwacht und mit Schaudern auf seine Situation vor der OP und in einem erweiterten Sinne auf sein früheres Leben zurückblickt.

Noch eine Ergänzung:
Die Narkose ist natürlich auch ein Zeitraum weitgehender Leblosigkeit. Vor diesem Hintergrund könnte das Lyrische Ich natürlich sein früheres Leben wirklich als „Narkose“ sehen, wenn das auch ein sehr radikales Bild ist.

Zeile 9-12: Vertiefte Kritik am Reisen

  1. Ab der Zeile 9 wird das Lyrische Ich dann deutlicher, was seine Kritik an dem Dasein vor der Narkose oder besser Operation angeht.
  2. Natürlich wird bei Reisen in ferne Länder bzw. Kulturen „Zeit gestohlen“ – aber das gilt natürlich nur, wenn es eine bessere Alternative gibt. Oder will das Lyrische Ich den Titel komplett negativ interpretieren. Steht es dann vielleicht sogar ein für „Nationalismus und Provinzialismus“ – so die Negativ-Abgrenzung der Wikipedia zum kosmopolitischen Ideal.
  3. Dass „den Augen Ruhe“ gestohlen wurde, hätte wohl einen kosmopolitischen Augenmenschen wie Goethe die Augenbrauen hochziehen lassen. Möglicherweise hätte der Geheimrat diesem Ex-Kosmopoliten – muss man wohl sagen – mahnend die Faust-Worte ins Stammbuch geschrieben: „„Zum Sehen geboren, / Zum Schauen bestellt, / Dem Turme geschworen, / Gefällt mir die Welt.“ Es scheint sich hier um einen arg ermüdeten Ex-Kosmopoliten zu handeln, wenn er keine Lust mehr hat Zeit zu opfern für neue Erfahrungen und neue Seh-Erfahrungen zu machen.
  4. Dann in Zeile 10 plötzlich ein Themenwechsel: Jetzt geht es nicht mehr ums Reisen, sondern um das, was den interkulturellen Kontakt ausmacht: „Das genaue Wort verliert seinen Ort.“ Stimmt – aber das galt und gilt doch gerade als Errungenschaft der Mehrsprachigkeit, dass das scheinbar „genaue“ Wort plötzlich seine letztlich auch „provinzielle“ (siehe oben) Ortsgebundenheit verliert.
  5. Aber Vorsicht: Man muss immer bereit sein, sich auf eine andere Gedanken- und Vorstellungswelt einzulassen. Suchen wir doch mal nach dem Verlust an Genauigkeit im interkulturellen Kontakt. Hier können Erfahrungen aus internationalen Konferenzen helfen. Wenn es dann nicht um Fragen der Chemie oder der Atomphysik, sondern um sprachgebundene kulturelle Gegenstände geht, ist es wirklich problematisch, wenn Goethes „Faust“ nicht in Deutsch besprochen wird. Jedenfalls soll es jetzt schon viele Veranstaltungen der Germanistik, also der Fachwissenschaft der deutschen Sprache und Literatur, geben, die in englischer Sprache ablaufen. Das ist sicher gut für die Verständigung, aber ob es auch für die Tiefe des Verstehens gut ist …
    Also: Es hat sich gelohnt, hier sich auf die Gedanken des Lyrischen Ichs offen einzulassen. Anscheinend kritisiert es eine Weltäufigkeit, die mehr mit Laufen zu tun hat als mit Welt.
  6. Jetzt versteht man auch ganz gut, was mit dem „Schwindel“ gemeint sein kann, der beim „Tausch von Jenseits und Hier“ einhergeht. Wir wagen mal die Hypothese, dass es dem Lyrischen Ich hier um ein leichtfertiges Hin und Her zwischen „verschiedenen Religionen, mehreren Sprachen“ geht – mit der Strafe des Verlusts an Genauigkeit.

Zeile 13-17: Der Fluch des „Transitraums“

  1. Zu dem Verlust an „Genauigkeit“, man könnte auch sagen „Individualität“, „Originalität“, „Einzigartigkeit“ – alles Eigenschaften nicht nur des einzelnen Menschen, sondern auch der kulturellen Welten – passen dann die negativen Reisebilder:
    „Überall sind die Rollfelder gleich grau“.
    Und dann die Krankenzimmer „gleich hell“ sind, soll wohl auch ein Hinweis auf klinische Sauberkeit sein, die es verhindert, dass die Kranken dort etwas finden, woran das Auge sich festhalten und von wo aus die Gedanken wegfliegen können.
  2. „Transitraum“ bedeutet dann wohl ein unguter Zwischenort zwischen eigentlichen Orten, etwas Künstliches, das vom wirklichen Leben getrennt ist.
    Sehr schön die Formulierung: „Wo Leerzeit umsonst bei Bewußtsein hält“ – offensichtlich ist das hier wirklich vergeudete Zeit, die man besser verschläft o.ä.
  3. Und dann am Ende der Clou, das angebliche „Sprichwort wahr aus den Bars von Atlantis“, einem übrigens untergegangenen Kontinent.
    „Reisen ist ein Vorgeschmack auf die Hölle.“
  4. Darauf sollte man natürlich noch ein bisschen genauer eingehen: Das Reisen wird hier auf sehr pointierte Weise als Vorgang angesehen, bei dem man den eigentlichen Ort seines Lebens, in dem man eingetaucht ist, mit der ungewissen Aussicht verlässt, woanders in gleicher Weise heimisch werden zu können.
  5. Hier müsste man mal Leute fragen, die das Experiment auf unterschiedliche Weise gewagt haben. Aus der Lebenswelt interkultureller Paare weiß man allerdings, wie schwierig ein wirkliches zweites Eintauchen in eine Kultur ist.
    Auf die entsprechenden Probleme wird zum Beispiel hier hingewiesen:
    https://schnell-durchblicken3.de/index.php/schnell-durchblicken-kurse/lernkurs-facharbeit/316-interkulturelle-partnerschaft-reif
    und hier:
    https://schnell-durchblicken3.de/index.php/schnell-durchblicken-kurse/lernkurs-facharbeit/317-interkulturelle-partnerschaft-sereny

Zusammenfassung

  1. Dem Lyrischen Ich geht es wohl vor allem darum, ein Kosmopoliten-Dasein anzugreifen, das nur müde macht, am Ende nur noch Gleichförmigkeiten oder falsche Ähnlichkeiten erkennt,  vor allem keinen sicheren Ort mehr hat, wo es wirklich „genau“ sein kann.
  2. Verdeutlicht wird es an scheinbaren Paradoxien, etwa am Anfang, wo man, wenn man am weitesten gereist ist, am wenigstens vom Reisen versteht.
  3. Oder das Bild der Narkose, die auf eine vorausgehende Krankheit verweist, die jetzt überwunden wird.
  4. Vor allem wird wohl auch kritisiert, dass die Vielfalt der Kulturen immer mehr eingeebnet wird
  5. und sich ein falsch verstandener Kosmopolitismus nur in einem „Transitraum“ bewegt, der eigentlich nicht verlassen wird.

Vergleich mit Eichendorff, „Rückkehr“

Im Rahmen des Abiturs 2020 war das Gedicht von Grünbein, mit einem der beiden Gedichte von Eichendorff zu vergleichen.

Wir haben es hier behandelt.

Ohne darauf genauer eingehen zu wollen, haben wir den Eindruck, dass beide zum gleichen Ergebnis kommen, dass nämlich die echte Welt zunächst oder überhaupt die ist, in der man aufgewachsen ist.

Eichendorff begründet das nur nicht näher, während Grünbein ausführlich, wenn auch in zum Teil schwierigen Bildern auf die Probleme hinweist, wenn man zwar zwischen verschiedenen Welten pendelt, allerdings ohne wirklich auch dort heimisch zu werden.

Verweis auf ein Buch

An dieser Stelle sei auf ein Buch verwiesen, das auf die Gefahren einer falschen „Vereinheitlichung“ der Welt verweist.

Thomas Bauer, Die Vereindeutigung der Welt: Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt, Reclams Universal-Bibliothek Nr. 19492, Ditzingen 2018

 

 

Anke Maggauer-Kirsche, „Abend in den Gassen“ – Beurteilung von Gedichten

Wenn die Lust zur Beurteilung wächst …

Wenn man auf ein Gedicht stößt und nicht gleich versteht, worauf es hinausläuft, dann wird es spannend. Denn dann geht es nicht mehr nur darum, dem Deutschlehrer eine Freude zu machen. Sondern es geht um die eigene Beziehung zu dem Text. Dennoch sollte man auch nicht gleich subjektiv an den Text herangehen, sondern erst mal sachlich klären, was das Gedicht hergibt. Erst danach versucht man sich in einer Beurteilung, die vielleicht auch andere nachvollziehen können.

Beispiel-Check eines Gedichtes

Wir spielen das mal durch am Beispiel des Gedichtes „Abend in den Gassen“ von Anke Maggauer-Kirsche, Zu finden ist es hier.

  1.  „Abend in den Gassen“
    Die Überschrift gibt nur den Ort und die Tageszeit an.  Es bleibt offen, in welche Richtung das gehen wird.
  2. Es folgen zwei Beschreibungselemente, die deutlich machen, in welche Richtung die Titelangabe sich entwickelt.
    Zum einen ist da die Bewegung des Lichts in Schaffenform an den Wänden, wohl der Häuser.
    Zum anderen wird das Licht charakterisiert als „der sanfte Glanz“. Das wird verbunden mit „des Alters“ und das Nachfolgende lässt vermuten, dass es sich um Steine handelt, die zu den Gebäuden u.ä. gehören.
    Wichtig sind die Begriffe „sanfte“ und „weich“, weil sie die Richtung verdeutlichen, in welche dieser Abendeindruck geht.
  3. Die nächste Strophe verstärkt dann den Eindruck, dass es sich um eine alte Stadt handelt, man meint hier Ankänge an die Romantik zu spüren, wenn auch das Geburtsdatum der Verfasserin 1948 deutlich macht, dass das nichts mit Eichendorff und Co zu tun hat.
    „golden“ passt dann wieder zu dieser schönen Atmosphäre.
    Dass das Abendlicht „die Schatten / von den Wänden“ streift, muss erste mal nachvollzogen werden. So richtig passt das nicht, denn die Schatten werden ja am Abend eher größer – das scheint hier lokal aber wohl anders zu sein.
  4. Dass sich die Gassen dann „verwischen“, hängt sicher mit der zunehmenden Dämmerung zusammen. Das führt auch wohl dazu, dass das Lyrische Ich das als „sanfter“ empfindet. Die scharfen Konturen verschwinden.
    Die Schlusspassage gehört dann – auch nahe an Eichendorff – der Mond, der allerdings als „träger“ vorgestellt wird, vielleicht hängt es mit Müdigkeit zusammen. Die anschließende Kombination von „steil“ und „langsam“ überzeugt aber nicht so ganz, denn das Steile verbindet man eher mit Dynamik. Man muss ja auch die Bahn des Mondes sehen.
    Dass „träge“ auch noch mit einem „trüben Abendhimmel“ verbunden wird, zerstört die vorher aufgebaute Stimmung und lässt unser Leserurteil eher ins Negative kippen.

Beurteilungsaspekte

  1. Wir haben uns wirklich bemüht, das Gedicht gut zu finden.
  2. Aber irgendwie haben wir die ganze Zeit drauf gewartet, dass da noch irgendwas kommt.
  3. Aber am Ende kommt nicht nur irgendwie nichts Besonderes, sondern man hat auch den Eindruck einer ziemlichen Beliebigkeit.
  4. Am Anfang war da doch noch „der sanfte Glanz / des Alters“ und „golden“ fiel „das letzte Abendlicht“ ein. Und auch sanfter erschienen schließlich die Gassen. Aber dann der Absturz der Kombination von „steil und langsam“ beim Mond. Das geht – wie wir schon gezeigt haben, gar nicht.
  5. Und dann kombiniert die Verfasserin auch noch einen „trüben Abendhimmel“ (wodurch ist der das plötzlich geworden?) mit einem „Mond“, der als „träger“ präsentiert wird. Was soll das Ganze?
  6. Insgesamt kann man dieses Gedicht sehr schön verwenden, um die Reaktion von Lesern oder Hörern zu testen. Wir sind eher enttäuscht, haben das Gefühl, da wollte jemand ein Gedicht schreiben, hat sich hingesetzt und alles verwendet, was gerade zu sehen war oder was ihm dazu einfiel. Das kann man machen – aber wir stellen hier höhere Ansprüche an ein Gedicht, wollen keine Beliebigkeit, sondern das Ergebnis einer Auseinandersetzung mit dem, worum es geht.
  7. Aber das kann man auch völlig anders sehen – und dann wird es spannend.

Idee für Vergleichsmöglichkeiten

Man könnte das Gedicht vergleichen mit Eichendorffs „Weihnachten“. Dabei geht es nicht darum, das inhaltlich gut zu finden. Aber man bekommt einen Eindruck davon, dass ein Gedicht eine Spannung enthalten kann, die auf etwas zuläuft.

Joseph von Eichendorff

Weihnachten

Markt und Straßen stehn verlassen,
Still erleuchtet jedes Haus,
Sinnend geh ich durch die Gassen,
Alles sieht so festlich aus.

  • Auch hier erst eine Beschreibung und dann der Eindruck, den das auf das Lyrische Ich macht – mit dem Akzent auf „festlich“.An den Fenstern haben Frauen
    Buntes Spielzeug fromm geschmückt,
    Tausend Kindlein stehn und schauen,
    Sind so wunderstill beglückt.
  • Hier noch mehr Details und die Wirkung auf die Kinder mit dem Schwerpunkt „beglückt“.Und ich wandre aus den Mauern
    Bis hinaus ins freie Feld,
    Hehres Glänzen, heil’ges Schauern!
    Wie so weit und still die Welt!
  • Jetzt eine Ortsveränderung „ins freie Feld“ hinein mit Hinweisen auf die tiefe Wirkung, die das auf das Lyrische Ich hat. Am Ende die Feststellung einer Welt, die „weit und still“ ist – ein Kontrast (zumindest teilweise) zu dem, was vorher beschrieben wurde.Sterne hoch die Kreise schlingen,
    Aus des Schnees Einsamkeit
    Steigt’s wie wunderbares Singen –
    O du gnadenreiche Zeit!
  • Dann der Blick nach oben und eine Art Vision, die das Lyrische Ich hat, die zu einem Erlebnis von Weihnachten führt, das aus der Natur herauswächst, aber alles einschließt, was zu dieser besonderen Zeit des Jahres gehört.
  • Auf diese „gnadenreiche“ Zeit läuft alles hinaus – damit kann man als Leser gut leben, auch wenn man selbst mit Weihnachten vielleicht andere Dinge verbindet.

Weiterführende Hinweise

  • Ein alphabetisches Gesamtverzeichnis unserer Infos und Materialien gibt es hier.
  • Eine Übersicht über unsere Videos auf Youtube gibt es hier.