Stefan Zweig
Hymnus an die Reise
Schienen, die blauen Adern aus Eisen,
Durchrinnen die Welt, ein rauschendes Netz.
- Die Überschrift dieses Gedichtes sagt schon viel aus, denn es geht offensichtlich um eine Art Loblied im Hinblick wahrscheinlich auf das Reisen allgemein. Zumindest ist das ein mögliches erstes Vorverständnis.
- Die ersten beiden Zeilen widmen sich dann dem zur Zeit Stefan Zweigs noch wichtigsten Verkehrsmittel, nämlich der Eisenbahn. Und an dem Bild der Adern, verbunden mit der Farbe Blau, merkt man gleich deutlich, dass es hier um Lebensadern geht. Schließlich sind Schienen in der Realität ja eher braun und mit der Farbe verbindet man nicht so viel Positives wie mit der Farbe Blau.
- In der zweiten Zeile gibt es auch positive Hinweise, nämlich „durchrinnen“ assoziiert man ja mit Wasser, ebenfalls ein Grundstoff des Lebens. Und wenn man Netz mit dem Attribut rauschend verbindet, ist das auch nicht negativ.
Herz, rinn mit ihnen! Raff auf dich, zu reisen,
Im Flug nur entfliehst du Gewalt und Gesetz.
Im Flug nur entfliehst du der eigenen Schwere,
Die dir dein Wesen umschränkt und erdrückt.
Wirf dich ins Weite, wirf dich ins Leere,
Nur Ferne gewinnt dich dir selber zurück!
- In der nächsten Zeile erfolgt vom lyrischen Ich ein Appell an sich selbst und zwar gleich in Richtung des Zentrums der Existenz und besonders der Gefühle, nämlich in Richtung des Herzens. Das soll sich an dieser lebendigen Bewegung des Rennens beteiligen und daraus sicherlich Kraft und Gesundheit schöpfen.
- Man merkt aber in der zweiten Hälfte der Zeile auch gleich, dass dazu immer auch erst mal eine Kraftanstrengung nötig ist, man muss sich aufraffen, raus aus der gemütlichen Sesselposition. Das erinnert sehr stark an die Romantik.
- Es folgen zwei Zeilen, die deutlich machen, wovon man sich bei einer solchen Aktion auch befreit. es geht einmal um negative äußerliche Einwirkung, dann aber auch um das, was den Menschen selbst von seinem Inneren aus beschweren kann.
- Der Schluss dieser Zeilengruppe betont dann noch einmal den großen Ansatz dieser Maßnahme, dennman wirft sich dabei durchaus ins Leere, verlässt also den geschützten Bereich und muss für sich selbst diese Leere dann auch erst mal fühlen.
- Man hat fast das Gefühl, dass hier aus der Perspektive von Auswanderern gesprochen wird, die etwa im 19 Jahrhundert alles aufgaben, was sie in Europa hatten, was sie aber auch fesselte, um dann in der neuen Welt für sich auch etwas Neues aufbauen zu können.
- Deutlich wird auch die interessante Erfahrung, dass man sich in der Ferne erst einmal verlieren muss, um sich dann neu auch zu finden.
- Das alles sind Bilder und Vorstellungen, die jeder mit eigenen Erfahrungen füllen kann.
Sieh! bloß ein Ruck, und schon rauscht es von Flügeln,
Für dich braust eine eherne Brust,
Heimat stürzt rücklings mit Hängen und Hügeln
Ein Neues, es wird dir neuselig bewußt.
- Es folgt eine fast schon reportageartige Schilderung des Vorgangs, in das das lyrische ich jetzt anscheinend selbst gerade hineintaucht.
- Dass man sich dabei beflügelt vorkommen muss, ist nachvollziehbar nach dem, was vorher entwickelt worden ist. Der Hinweis auf eine anscheinend außen vorhandene „eherne Brust“ ist allerdings etwas befremdlich und schwer zu verstehen. Vielleicht kann man das aber doch so verstehen, dass diese „eherne Brust“ dann doch die eigene ist, die man jetzt gewissermaßen wie eine Rüstung oder einen Brustpanzer anzieht.
- Dann wird bildlich dargestellt, wie alles Bisherige hinter einem zurückbleibt. Und das neue Gefühl von Weite und Perspektive in dem Neologismus „neuselig“ zusammengefasst wird.
Die Grenzen zerklirren, die gläsernen Stäbe,
Sprachen, die fremden, sie eint dir der Geist
Unendlicher Einheit, da er die Schwebe
Der vierzehn Völker Europas umkreist.
- Im folgenden wendet sich das lyrische Ich dann größeren Zusammenhängen zu, zunächst geht es um das Zerbrechen der Grenzen. Interessant ist das Bild der „gläsernen Stäbe“. Denn das kann man so verstehen, dass man zwar eigentlich immer schon in die Weite schauen konnte, aber die gläsernen Stäbe haben einen letztlich daran gehindert, auch hinaus zu gehen.
- Dann geht es um die verschiedenen Sprachen, mit denen man in der Fremde konfrontiert wird.
- Hier wird hervorgehoben, dass diese Sprachen und die damit verbundene Menschen letztlich doch etwas einigt. Dieser Geist der zur Zeit Zweigs wahrscheinlich vorhanden 14 Völker Europas wird auf jeden Fall als ein Potenzial der Einigung verstanden.
- Auch hier muss man selbst überlegen, was damit gemeint sein könnte. Am wahrscheinlichsten ist wahrscheinlich die Vorstellung einer gemeinsamen Kultur, die ja unter den gebildeten Menschen zur Zeit Zweigs noch sehr stark durch die römische und griechische Kultur und Sprache geprägt war. Aber natürlich ist das ganze auch offen für die Vorstellung von einer Art Menschheitsfamilie.
Und in dem Hinschwung von Ferne zu Fernen
Wächst dir die Seele, verklärt sich der Blick,
So wie die Welt im Tanz zwischen Sternen
Schwingend ausruht in großer Musik.
- In den vier Schluss-Zeilen des Gedichtes wird dann die positive Auswirkung des Reisens von einer Ferne zur andern beschrieben.
- Zum einen wird das eigene Innere, das Bewusstsein, das Zentrum der Gefühle größer, zum anderen aber auch ändert sich der Blick auf die Welt.
- Interessant ist aber das Wort „verklären“, weil in ihm zwar „klar“ steckt, doch aber auch ein Aspekt, der über die normale, kalte, materielle Welt hinausweist.
- Die beiden Schluss-Zeilen sind dann wirklich Hymnus pur, denn hier werden Vorstellungen von der Welt präsentiert, die weit über die normale Wirklichkeit hinausgehen.
Weiterführende Hinweise
- Weitere Beispiele für erfolgreiches Verstehen von Gedichten finden sich hier.
- Weitere Beispiel für Gedichte zum Thema „Reisen“, „Unterwegssein“ oder auch „Fremdsein“: hier
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