Stefan Zweig, „Hymnus an die Reise“

Stefan Zweig

Hymnus an die Reise

Schienen, die blauen Adern aus Eisen,
Durchrinnen die Welt, ein rauschendes Netz.

  • Die Überschrift dieses Gedichtes sagt schon viel aus, denn es geht offensichtlich um eine Art Loblied im Hinblick wahrscheinlich auf das Reisen allgemein. Zumindest ist das ein mögliches erstes Vorverständnis.
  • Die ersten beiden Zeilen widmen sich dann dem zur Zeit Stefan Zweigs noch  wichtigsten Verkehrsmittel, nämlich der Eisenbahn. Und an dem Bild der Adern, verbunden mit der Farbe Blau, merkt man gleich deutlich, dass es hier um Lebensadern geht. Schließlich sind Schienen in der Realität ja eher braun und mit der Farbe verbindet man nicht so viel Positives wie mit der Farbe Blau.
  • In der zweiten Zeile gibt es auch positive Hinweise, nämlich „durchrinnen“ assoziiert man ja mit Wasser, ebenfalls ein Grundstoff des Lebens. Und wenn man Netz mit dem Attribut rauschend verbindet, ist das auch nicht negativ.

Herz, rinn mit ihnen! Raff auf dich, zu reisen,
Im Flug nur entfliehst du Gewalt und Gesetz.
Im Flug nur entfliehst du der eigenen Schwere,
Die dir dein Wesen umschränkt und erdrückt.
Wirf dich ins Weite, wirf dich ins Leere,
Nur Ferne gewinnt dich dir selber zurück!

  • In der nächsten Zeile erfolgt vom lyrischen Ich ein Appell an sich selbst und zwar gleich in Richtung des Zentrums der Existenz und besonders der Gefühle, nämlich in Richtung des Herzens. Das soll sich an dieser lebendigen Bewegung des Rennens beteiligen und daraus sicherlich Kraft und Gesundheit schöpfen.
  • Man merkt aber in der zweiten Hälfte der Zeile auch gleich, dass dazu immer auch erst mal eine Kraftanstrengung nötig ist, man muss sich aufraffen, raus aus der gemütlichen Sesselposition. Das erinnert sehr stark an die Romantik.
  • Es folgen zwei Zeilen, die deutlich machen, wovon man sich bei einer solchen Aktion auch befreit. es geht einmal um negative äußerliche Einwirkung, dann aber auch um das, was den Menschen selbst von seinem Inneren aus beschweren kann.
  • Der Schluss dieser Zeilengruppe betont dann noch einmal den großen Ansatz dieser Maßnahme, dennman wirft sich dabei durchaus ins Leere, verlässt also den geschützten Bereich und muss für sich selbst diese Leere dann auch erst mal fühlen.
  • Man hat fast das Gefühl, dass hier aus der Perspektive von Auswanderern gesprochen wird, die etwa im 19 Jahrhundert alles aufgaben, was sie in Europa hatten, was sie aber auch fesselte, um dann in der neuen Welt für sich auch etwas Neues aufbauen zu können.
  • Deutlich wird auch die interessante Erfahrung, dass man sich in der Ferne erst einmal verlieren muss, um sich dann neu auch zu finden.
  • Das alles sind Bilder und Vorstellungen, die jeder mit eigenen Erfahrungen füllen kann.

Sieh! bloß ein Ruck, und schon rauscht es von Flügeln,
Für dich braust eine eherne Brust,
Heimat stürzt rücklings mit Hängen und Hügeln
Ein Neues, es wird dir neuselig bewußt.

  • Es folgt eine fast schon reportageartige Schilderung des Vorgangs, in das das lyrische ich jetzt anscheinend selbst gerade hineintaucht.
  • Dass man sich dabei beflügelt vorkommen muss, ist nachvollziehbar nach dem, was vorher entwickelt worden ist. Der Hinweis auf eine anscheinend außen vorhandene „eherne Brust“ ist allerdings etwas befremdlich und schwer zu verstehen. Vielleicht kann man das aber doch so verstehen, dass diese „eherne Brust“ dann doch die eigene ist, die man jetzt gewissermaßen wie eine Rüstung oder einen Brustpanzer anzieht.
  • Dann wird bildlich dargestellt, wie alles Bisherige hinter einem zurückbleibt. Und das neue Gefühl von Weite und Perspektive in dem Neologismus „neuselig“ zusammengefasst wird.

Die Grenzen zerklirren, die gläsernen Stäbe,
Sprachen, die fremden, sie eint dir der Geist
Unendlicher Einheit, da er die Schwebe
Der vierzehn Völker Europas umkreist.

  • Im folgenden wendet sich das lyrische Ich dann größeren Zusammenhängen zu, zunächst geht es um das Zerbrechen der Grenzen. Interessant ist das Bild der „gläsernen Stäbe“. Denn das kann man so verstehen, dass man zwar eigentlich immer schon in die Weite schauen konnte, aber die gläsernen Stäbe haben einen letztlich daran gehindert, auch hinaus zu gehen.
  • Dann geht es um die verschiedenen Sprachen, mit denen man in der Fremde konfrontiert wird.
  • Hier wird hervorgehoben, dass diese Sprachen und die damit verbundene Menschen letztlich doch etwas einigt. Dieser Geist der zur Zeit Zweigs wahrscheinlich vorhanden 14 Völker Europas wird auf jeden Fall als ein Potenzial der Einigung verstanden.
  • Auch hier muss man selbst überlegen, was damit gemeint sein könnte. Am wahrscheinlichsten ist wahrscheinlich die Vorstellung einer gemeinsamen Kultur, die ja unter den gebildeten Menschen zur Zeit Zweigs noch sehr stark durch die römische und griechische Kultur und Sprache geprägt war. Aber natürlich ist das ganze auch offen für die Vorstellung von einer Art Menschheitsfamilie.

Und in dem Hinschwung von Ferne zu Fernen
Wächst dir die Seele, verklärt sich der Blick,
So wie die Welt im Tanz zwischen Sternen
Schwingend ausruht in großer Musik.

  • In den vier Schluss-Zeilen des Gedichtes wird dann die positive Auswirkung des Reisens von einer Ferne zur andern beschrieben.
  • Zum einen wird das eigene Innere, das Bewusstsein, das Zentrum der Gefühle größer, zum anderen aber auch ändert sich der Blick auf die Welt.
  • Interessant ist aber das Wort „verklären“, weil in ihm zwar „klar“ steckt, doch aber auch ein Aspekt, der über die normale, kalte, materielle Welt hinausweist.
  • Die beiden Schluss-Zeilen sind dann wirklich Hymnus pur, denn hier werden Vorstellungen von der Welt präsentiert, die weit über die normale Wirklichkeit hinausgehen.

Weiterführende Hinweise

  • Weitere Beispiele für erfolgreiches Verstehen von Gedichten finden sich hier.
  • Weitere Beispiel für Gedichte zum Thema „Reisen“, „Unterwegssein“ oder auch „Fremdsein“: hier
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  • Eine Übersicht über unsere Videos auf Youtube gibt es hier.

Muhammad Schams ad-Din Hafis, „Reiseziel“ – ein persisches Gedicht aus dem 14. Jhdt.

Im Folgenden  geht es um ein besonderes „Reisegedicht“ aus dem 14. Jahrhundert, das uns in der Übersetzung eines deutschen Dichters aus dem 19. Jhdt vorliegt.

Zu finden ist das Gedicht zum Beispiel auf der Seite:
https://www.gedichte-fuer-alle-faelle.de/allegedichte/gedicht_1692.html

Muhammad Schams ad-Din Hafis

Reiseziel

Nun ist das Leben an seinem Ziel
Und ohne Zweck war die Reise.
O Jüngling, rühre das Saitenspiel,
Schon morgen wirst du zum Greise.

  • Das Gedicht beginnt mit einer Art Klage des Lyrischen Ichs, das sich das Ende einer Lebensreise vorstellt, die zwar „an seinem Ziel“ angelangt ist, aber es „ohne Zweck“ erreicht hat.
  • Es hat also offensichtlich ein größerer Kontext, eine Aufgabe gefehlt.
  • Als einzige Möglichkeit wird noch gesehen, Musik zu machen, denn schon am folgenden Tag, also in kurzer Zeit wird man „zum Greise“.
  • Hier ist nicht ganz klar, welche Kommunikationssituation vorliegt. Am meisten überzeugt wohl ein Verständnis, bei dem das Lyrische Ich an sein Ende denkt und vor diesem Hintergrund einem jungen Menschen den Rat gibt, sich mit Musik das Leben angenehmer zu gestalten, denn das traurige Ende nahe schnell.

Das lecke Schiff und der morsche Kiel
In Meeren ohne Geleise,
Der Winde Ball und der Wellen Spiel
Unnütz gewirbelt im Kreise.

  • Die zweite Strophe präsentiert das Bild eines Schiffes,
  • das zunächst schon mal als seeuntüchtig vorgestellt wird
  • und dann auch noch in schweres Wetter gerät.
  • Interessant auch hier, dass wieder  von „unnütz“ die Rede ist, was zu dem fehlenden Zweck aus der ersten Strophe passt.

So viel gehofft und gewünscht so viel,
Getäuscht in jeglicher Weise,
Hindurch durchs ewige Widerspiel
Gequält von Glut und von Eise.

  • Die dritte Strophe konzentriert sich auf den Gegensatz zwischen den Hoffnungen und Wünschen und der Realität, bei der sich alles als Täuschung herausgestellt hat.
  • Das Leben wird verstanden als ein ständiges Hin und Her, bei dem der Mensch nur ein Spielball ist und sich dabei „gequält“ fühlt.

Nun sinkt die Rose auf mattem Stiel,
Die Blätter fallen vom Reise.
Nun ist das Leben an seinem Ziel
Und ohne Zweck war die Reise.

  • Die letzte Strophe nimmt dann noch mal den Ausgangspunkt wieder auf.
  • Der Mensch am Ende seines Lebens wird als Rose angesehen, deren Lebenszeit auch zu Ende geht und die ihre Blätter, also die Zeichen der Lebenskraft verliert.
  • Dann werden die Eingangszeilen wiederholt, was die Sinnlosigkeit unterstreicht.
  • Man hat den Eindruck, dass das Lyrische Ich damit signalisiert, es hätte sich alles dazwischen eigentlich auch sparen können.

(aus dem Persischen von Friedrich Rückert)

Zusammenfassung und kreativer Ausblick

Insgesamt wirkt das Gedicht sehr negativ, geht in keiner Weise auf Dinge ein, die ein Leben lebenswert machen – von der Schönheit der Natur bis zum Geheimnis der Liebe.

Vor diesem Hintergrund „schreit“ dieses Gedicht regelrecht nach einem Gegengedicht.

Man könnte zum Beispiel folgenden Ansatz versuchen:

Reiseweg

Wer stets nur ans Ziel denkt
des Lebens, den Tod,
wird blind für das Schöne
am Rand aller Wege,
die gehen man darf.

Aber auch Schatten
sind nützlich, sorgen für
Einhalt und schaffen
Erfahrung – sind Triebkraft
des Wachstums – man lernt
nur durch Schmerz.

Und wenn dann das Ende
der Reise sich naht.
Wohl dem, dessen Rückblick
voll Welt ist und Zweck.

Weiterführende Hinweise

  • Weitere Beispiele für erfolgreiches Verstehen von Gedichten finden sich hier.
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Eichendorff, „Rückkehr“ – ein Gedicht ohne großen Zusammenhang?

Vorab-Kritik: Ein Schnellschuss?

Ausnahmsweise beginnen wir die Interpretation eines Gedichtes tatsächlich mit einem persönlichen Bekenntnis, weil wir viel gelitten haben.

Wir haben eine hohe Meinung von Gedichten und besonders auch von Eichendorff. Wir wissen aber auch, dass jeder Mensch und damit auch jeder Schriftsteller Höhen und Tiefen kennt.

Also stellen wir hier einfach mal die These auf, dass dieses Gedicht unseren Ansprüchen nicht so recht genügen kann. Wir können uns des Gefühls nicht erwehren, dass das Gedicht ein bisschen „hingeklatscht“ ist, sehr nach einem Schnellschuss aussieht.

Nun haben auch solche Gedichte ihre Berechtigung – das ändert aber nichts an der Enttäuschung derer, die von ihren Mitmenschen und damit auch von Schriftstellern mehr erwarten.

So, jeder kennt nun unsere Vor-Urteile gegenüber diesem Gedicht. Und damit gibt es auch eine gute Grundlage, das selbst zu prüfen und uns ggf. zu widersprechen.

Unsere Sicht auf das Gedicht

Joseph von Eichendorff

Überschrift und 1. Strophe

Rückkehr

01 Wer steht hier draußen? — Macht auf geschwind!
02 Schon funkelt das Feld wie geschliffen,
03 Es ist der lustige Morgenwind,
04 Der kommt durch den Wald gepfiffen.

  • Das Gedicht beginnt mit einer etwas unklaren Kommunikationssituation.
  • Am Anfang steht eine Frage, die nur aus dem Inneren eines Hauses kommen kann. Die Antwort wiederum kann hier nur von jemanden kommen, der draußen steht und rein will.
  • Dann gibt es drei Sprecher-Hinweise, die die Welt draußen sehr positiv darstellen, es geht um die Schönheit der Natur, die auch aus der menschlichen Perspektive mit einer positiven Geisteshaltung verbunden wird. Dazu kommt beim Wind das Element der Geschwindigkeit.
  • Wenn man das hermeneutische Modell anwendet und sich fragt, wie es mit dem Verständnis des Gedichtes am Ende der ersten Strophe aussieht, weiß man hier noch nicht so richtig, woran man ist.
  • Man könnte glauben, dass draußen jemand steht, der einen zum Aufbruch, zum Beispiel zu einer Wanderung aufruft. Dagegen spricht aber natürlich die Überschrift „Rückkehr“.

2. Strophe

05 Ein Wandervöglein, die Wolken und ich,
06 Wir reis’ten um die Wette,
07 Und jedes dacht‘: nun spute dich,
08 Wir treffen sie noch im Bette!

  • Die zweite Strophe präsentiert dann eine Art Rückblick auf eine intensive Reisetätigkeit.
  • Verbunden wird das mit dem Aspekt der Schnelligkeit, fast schon der Rastlosigkeit. Aus irgendeinem Grunde will das lyrische ich Irgendwelche anderen Leute überraschen, die nicht so früh auf sind wie es selbst.

3. Strophe

09 Da sind wir nun, jetzt alle heraus,
10 Die drinn noch Küsse tauschen!
11 Wir brechen sonst mit der Tür in’s Haus:
12 Klang, Duft und Waldesrauschen.

  • In dieser Strophe wird dem Leser nun das Ziel dieses schnellen Aufbruchs präsentiert, nämlich irgendwelche anderen Menschen, die eher noch mit der Liebe beschäftigt sind.
  • Verbunden wird das mit einer wahrscheinlich freundlich gemeinten Bereitschaft auch zur Gewalttätigkeit, wenn die Tür nicht schnell genug geöffnet wird.
  • Die Schlusszeile präsentiert dann einfach drei schöne Aspekte, die mit dem Wandern verbunden sind.

4. Strophe

13 Ich komme aus Italien fern
14 Und will Euch alles berichten,
15 Vom Berg Vesuv und Roma’s Stern
16 Die alten Wundergeschichten.

  • Diese Strophe passt dann am besten zur Überschrift, weil das lyrische Ich sich dort tatsächlich in die Situation eines Rückkehrers versetzt.
  • Es geht um das Sehnsuchtsland der Deutschen, von dem es berichten will, und schöne Örtlichkeiten werden dann gleich auch im romantischen Sinne mit alten „Wundergeschichten“ in eine Beziehung gesetzt – oder so verbunden.

5. Strophe

17 Da singt eine Fey auf blauem Meer,
18 Die Myrthen trunken lauschen —
19 Mir aber gefällt doch nichts so sehr,
20 Als das deutsche Waldesrauschen!

  • Die letzte Strophe geht dann in den ersten beiden Zeilen auf typisch romantische Motive und Gefühle ein,
  • macht aber dann in den letzten beiden Zeilen deutlich, dass es mehr an der deutschen Heimat hängt, mit Betonung der Bedeutung des Waldes.

Zusammenfassung

  • Insgesamt ein irgendwie sehr unstrukturiert wirkendes Gedicht, dessen Bestandteile man nur mühsam zu einem zusammenhängenden Inhalt verarbeiten kann.
  • Nicht ungefähr wird diesem Gedicht bei weitem nicht die Bedeutung zugesprochen, wie sie das andere Gedicht mit dem gleichen Titel von Eichendorff hat.
  • Insgesamt zeigt das Gedicht ein Nebeneinander von typisch romantischen Motiven und ein bisschen Fernweh, um am Ende dann ganz eindeutig eine Priorität zu setzen.
  • Sehr bedauerlich ist, dass die Schlusspointe in keiner Weise aus dem Gedicht heraus motiviert wirkt und auch ansonsten nicht weiter begründet wird.
  • So bleibt beim Leser der Eindruck eines etwas gedankenarmen Schnellschusses. Gerade der Vergleich mit dem anderen Rückkehr-Gedicht zeigt, wozu Eichendorff wirklich fähig ist.

Vergleich mit Grünbein, „Kosmopolit“

Im Rahmen des Abiturs 2020 war das Gedicht von Eichendorff, mit einem von Grünbein zu vergleichen.

Wir haben es hier behandelt.

Ohne darauf genauer eingehen zu wollen, haben wir den Eindruck, dass beide zum gleichen Ergebnis kommen, dass nämlich die echte Welt zunächst oder überhaupt die ist, in der man aufgewachsen ist.

Eichendorff begründet das nur nicht näher, während Grünbein ausführlich, wenn auch in zum Teil schwierigen Bildern auf die Probleme hinweist, wenn man zwar zwischen verschiedenen Welten pendelt, allerdings ohne wirklich auch dort heimisch zu werden.

Weiterführende Hinweise

  • Weitere Beispiele für erfolgreiches Verstehen von Gedichten finden sich hier.
  • Weitere Beispiel für Gedichte zum Thema „Reisen“, „Unterwegssein“ oder auch „Fremdsein“: hier
  • Ein alphabetisches Gesamtverzeichnis unserer Infos und Materialien gibt es hier.
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Durs Grünbein, „Kosmopolit“ oder die Frage: Was ist mit dem Titel?

Je schwieriger das Gedicht, desto wichtiger die Methode

  1. Wenn wir Gedichte interpretieren, dann immer „induktiv“ mit „hermeneutischer Kontrolle“.
    1. „Induktiv“ heißt dabei, dass wir uns Zeile für Zeile durcharbeiten und dabei schauen, was zusammenpasst und eine Aussage und vielleicht sogar Sinn erkennen lässt.
    2. „Hermeneutisch“ heißt, dass man immer wieder das Verständnis anpasst. Am Anfang hat man ein „Vor-Verständnis“ – und dann beginnt man eine Art Gespräch mit dem Text. Der liefert das, was das Lyrische Ich von sich gibt. Und wir als Interpreten melden dem Text gewissermaßen zurück, wie wir das verstehen. Jetzt kommt natürlich der Punkt, dass wir die Antwort des Textes auf unser aktuelles Verständnis mit ihm selbst überprüfen müssen. Denn der Text kann ja nicht mehr reden, als der Autor ihm ein für allemal mitgegeben hat.
    3. Insgesamt haben die beiden Methoden den Vorteil, dass man ganz nah am Text ein Verständnis aufbaut und das immer wieder am Text kontrolliert.
    4. Wenn wir dabei ordentlich arbeiten, kann kein Deutschlehrer der Welt das, was rauskommt, zurückweisen. Es kann höchstens sein, dass wir nicht genau genug hingeschaut haben. Aber das kann man natürlich üben.
    5. Übrigens spielt bei der Interpretation des Gedichtes der Autor überhaupt keine Rolle. Was er geschrieben hat, hat er geschrieben – und nur das ist Literatur. Alles, was man sonst noch aus seiner Biografie o.ä. weiß, ist „Literaturgeschichte“. Denn dann wird ein literarisches Werk zu einem Zeitdokument. Kunst und eben auch Literatur ist aus Prinzip zeitlos, weil ja der berühmte Satz gilt: „Kunst entsteht im Auge des Betrachters.“ Und wir lassen dem Autor natürlich seinen Anteil und machen daraus: „Kunst entsteht (endgültig erst) im Auge des Betrachters und das Verständnis ändert sich deshalb auch ständig.“

Durs Grünbeins Gedicht „Kosmopolit“ als Herausforderung

  1. Ein schönes Beispiel für eine Herausforderung ist das Gedicht „Kosmopolit“ von Durs Grünbein.
  2. Man findet es zum Beispiel auf der Seite: (wir gehen davon aus, dass es dort mit Zustimmung des Autors veröffentlicht worden ist!)
    https://www.lyrikline.org/de/gedichte/kosmopolit-75

Induktives Signal Nr. 1: Die Überschrift

  1. Wenn man die Überschrift des Gedichtes liest und ein bisschen weiß, in welchem Zusammenhang dieses Wort verwendet wird. Dann hat man schon ein erstes Vor-Verständnis von dem, was das Gedicht behandelt.
    1. Es geht offensichtlich um einen Menschen, der sich der ganzen Welt nahe fühlt, global denkt und wahrscheinlich auch gerne reist und in andere Kulturen eintaucht.
    2. Im Duden wird das Wort zum Beispiel mit „Weltbürger“ übersetzt:
      https://www.duden.de/rechtschreibung/Kosmopolit
    3. Wikipedia ist dann noch ein bisschen genauer, indem „Kosmopolit“ mit „Kosmopolitismus“ verbunden wird – und dafür wird die Erklärung geliefert:
      Kosmopolitismus (von griechisch κόσμος kósmos ‚Weltordnung, Ordnung, Welt‘ und πολίτης polítes ‚Bürger‘), auch Weltbürgertum, ist eine philosophisch-politische Weltanschauung, die den ganzen Erdkreis als Heimat betrachtet. “
      https://de.wikipedia.org/wiki/Kosmopolitismus

Die ersten beiden Zeilen des Gedichtes

  1. überraschen den Leser dann allerdings. Das Lyrische Ich geht vom extremsten Fall des Kosmopolitendaseins aus, nämlich von der weitesten Reise.
  2. Und am Tag darauf, behauptet es, dass ihm klar geworden sei, vom Reisen nichts zu verstehen.
  3. Damit wird natürlich eine sehr große Spannung aufgebaut, weil hier etwas Überraschendes und auf den ersten Blick Unverständliches präsentiert wird.
  4. Denn auf jeden Fall ist klar, dass der „Kosmopolit“ des Gedichtes nicht zu Hause von der Ferne träumt und vielleicht viele Bücher über ferne Welten liest oder auch mit vielen Menschen in anderen Kulturen Kontakt hält, sondern er ist immer wieder unterwegs gewesen.
  5. Unverständlich muss dem Leser hier erscheinen, dass jemand, der immer gereist ist, angeblich vom Reisen nichts versteht. Das kann nur als Provokation gemeint sein, denn wer viel reist, versteht automatisch etwas vom Reisen. Allenfalls macht er eine neue Erfahrung, wird ihm plötzlich etwas klar – aber dann würde man das anders formulieren.

Die Zeilen 3-6: Negativ-Erfahrungen beim Reisen

Im folgenden

    1. wird eine Kette von Eindrücken und Erfahrungen zusammengestellt, die man bei einem Kosmopoliten nicht vermutet, sondern eher bei einem, der seinen ersten Fernflug angetreten hat.
      Keiner, der immer wieder geflogen ist, wird im Bekanntenkreis als neue Erfahrung verkaufen:
      „Im Flugzeug eingesperrt, stundenlang unbeweglich“.
      Die ironische Reaktion wäre sicher: „Du, das ist mir aber jetzt absolut neu.“
    2. Auch die Feststellungen,
      1. „Unter mir Wolken, die aussehn wie Wüsten, / Wüsten, die aussehn wie Meere, und Meere, / Den Schneewehen gleich, durch die man streift“
        passen irgendwie nicht zu den plötzlichen Erkenntnissen eines Weltreisenden. Das gehört eher in eine Reportage – als allgemeine Erfahrung des Reisens würden sie wohl nicht so gut ankommen.
      2. Und ob Wolken wirklich aussehen wie Wüsten, mag jeder selbst beurteilen.
      3. Und wenn man bei Wüsten an Meere denkt, ist das in der Regel schon farblich ein Problem.
      4. Und Meere aus dem Flugzeug mit Schneewehen zu vergleichen, dürfte schwer nachzuvollziehen sein.
      5. Insgesamt hat man den Eindruck, dass dieses weit gereiste Lyrische Ich etwas Probleme hat mit der Auswahl seiner Eindrücke und deren Schilderung.
      6. Außerdem fragt sich der aufmerksame Leser sicher, ob es zum Begriff des „Kosmopoliten“ vor allem gehört, sich mit dem Fliegen zu beschäftigen. Wenn man das früher als Schüler in einem Aufsatz gemacht hätte, würde der Lehrer wohl „Thema verfehlt“ an den Rand schreiben.
        Aber ein Dichter ist ja glücklicherweise kein Schüler und darf erst mal alles.
      7. Wir behalten aber schon mal im Auge, dass in den ersten sechs Zeilen keine Rede ist von fremden Kulturen und vielleicht auch der Freude, dort etwas zu erleben und sich davon innerlich bereichern zu lassen.
        Und wäre es ein Vortrag, die Zuhörer wären sicher enttäuscht oder besonders gespannt auf das, was jetzt noch kommt. Und die Zeilen laufen gewissermaßen und werden immer weniger.

Zeile 7 und 8: Der „Narkose“-Hammer

    1. Bis zur Zeile 6 hat sich beim Leser „rezeptionsästhetisch“ eine gewisse Antihaltung gegen dieses Lyrische Ich aufgebaut, eine Enttäuschung. Man hat das Gefühl hat, dass hier etwas nicht passt, dass einem etwas vorgeführt wird, was mit der Realität so nicht viel zu tun hat, wenn man von der Überschrift des Gedichtes ausgeht.
    2. Natürlich mag es Vielflieger und auch Kosmopoliten geben, die irgendwann das Reisen leid sind. Aber dann hätte man doch gerne etwas erfahren über das Verhältnis dieses Leidens zur kosmopolitischen Lust an der Ferne und am Anderen.
      Das Gedicht heißt ja nicht „Der Ex-Kosmopolit“.
      Auch wird sich ein solches Leiden eher langsam einschleichen und das harsche Urteil, das hier gefällt wird, hat dann eine lange Vorgeschichte.
    3. Am fragwürdigsten ist dann das Bild der „Narkose“.
      1. Wenn wir uns recht erinnern, unsere letzte Operation liegt glücklicherweise lange zurück, dann war die „Narkose“ ein unter Umständen unangenehmer Aussetzer und der größte Wunsch war, wieder in die Normalität des Lebens zurückzukehren.
      2. Wenn ein Mensch nach einer Narkose anders denkt als vorher, muss er sich wohl ernsthafte Sorgen um seinen Gesundheitszustand machen, falls er das noch kann.
      3. Wir würden hier eher an das Abnehmen einer Brille mit einem bestimmten Filter denken, der uns dann die Realität anders wahrnehmen lässt.
      4. Interessant auch die Veränderung, die das Lyrische Ich an sich wahrnimmt: Es weiß jetzt, was es heißt, „über Längengrade zu irren“. Das muss aber in der Narkose ein besonders übler Traum gewesen sein. Normalerweise passiert so etwas eher im Schlaf.
      5. Da das Irren auf jeden Fall etwas Negatives sein, können wir nur annehmen (als Hypothese), dass die „Narkose“ hier auf besondere Weise bildlich gemeint ist, nämlich im Sinne eines eigenen Verständnisses des Vorgangs.

„Narkose“ heißt dann vielleicht nur, dass das Lyrische Ich irgendwie krank war bei all dem, was es als „Kosmopolit“ bisher getan hat und jetzt gewissermaßen gesund aufwacht und mit Schaudern auf seine Situation vor der OP und in einem erweiterten Sinne auf sein früheres Leben zurückblickt.

Noch eine Ergänzung:
Die Narkose ist natürlich auch ein Zeitraum weitgehender Leblosigkeit. Vor diesem Hintergrund könnte das Lyrische Ich natürlich sein früheres Leben wirklich als „Narkose“ sehen, wenn das auch ein sehr radikales Bild ist.

Zeile 9-12: Vertiefte Kritik am Reisen

  1. Ab der Zeile 9 wird das Lyrische Ich dann deutlicher, was seine Kritik an dem Dasein vor der Narkose oder besser Operation angeht.
  2. Natürlich wird bei Reisen in ferne Länder bzw. Kulturen „Zeit gestohlen“ – aber das gilt natürlich nur, wenn es eine bessere Alternative gibt. Oder will das Lyrische Ich den Titel komplett negativ interpretieren. Steht es dann vielleicht sogar ein für „Nationalismus und Provinzialismus“ – so die Negativ-Abgrenzung der Wikipedia zum kosmopolitischen Ideal.
  3. Dass „den Augen Ruhe“ gestohlen wurde, hätte wohl einen kosmopolitischen Augenmenschen wie Goethe die Augenbrauen hochziehen lassen. Möglicherweise hätte der Geheimrat diesem Ex-Kosmopoliten – muss man wohl sagen – mahnend die Faust-Worte ins Stammbuch geschrieben: „„Zum Sehen geboren, / Zum Schauen bestellt, / Dem Turme geschworen, / Gefällt mir die Welt.“ Es scheint sich hier um einen arg ermüdeten Ex-Kosmopoliten zu handeln, wenn er keine Lust mehr hat Zeit zu opfern für neue Erfahrungen und neue Seh-Erfahrungen zu machen.
  4. Dann in Zeile 10 plötzlich ein Themenwechsel: Jetzt geht es nicht mehr ums Reisen, sondern um das, was den interkulturellen Kontakt ausmacht: „Das genaue Wort verliert seinen Ort.“ Stimmt – aber das galt und gilt doch gerade als Errungenschaft der Mehrsprachigkeit, dass das scheinbar „genaue“ Wort plötzlich seine letztlich auch „provinzielle“ (siehe oben) Ortsgebundenheit verliert.
  5. Aber Vorsicht: Man muss immer bereit sein, sich auf eine andere Gedanken- und Vorstellungswelt einzulassen. Suchen wir doch mal nach dem Verlust an Genauigkeit im interkulturellen Kontakt. Hier können Erfahrungen aus internationalen Konferenzen helfen. Wenn es dann nicht um Fragen der Chemie oder der Atomphysik, sondern um sprachgebundene kulturelle Gegenstände geht, ist es wirklich problematisch, wenn Goethes „Faust“ nicht in Deutsch besprochen wird. Jedenfalls soll es jetzt schon viele Veranstaltungen der Germanistik, also der Fachwissenschaft der deutschen Sprache und Literatur, geben, die in englischer Sprache ablaufen. Das ist sicher gut für die Verständigung, aber ob es auch für die Tiefe des Verstehens gut ist …
    Also: Es hat sich gelohnt, hier sich auf die Gedanken des Lyrischen Ichs offen einzulassen. Anscheinend kritisiert es eine Weltäufigkeit, die mehr mit Laufen zu tun hat als mit Welt.
  6. Jetzt versteht man auch ganz gut, was mit dem „Schwindel“ gemeint sein kann, der beim „Tausch von Jenseits und Hier“ einhergeht. Wir wagen mal die Hypothese, dass es dem Lyrischen Ich hier um ein leichtfertiges Hin und Her zwischen „verschiedenen Religionen, mehreren Sprachen“ geht – mit der Strafe des Verlusts an Genauigkeit.

Zeile 13-17: Der Fluch des „Transitraums“

  1. Zu dem Verlust an „Genauigkeit“, man könnte auch sagen „Individualität“, „Originalität“, „Einzigartigkeit“ – alles Eigenschaften nicht nur des einzelnen Menschen, sondern auch der kulturellen Welten – passen dann die negativen Reisebilder:
    „Überall sind die Rollfelder gleich grau“.
    Und dann die Krankenzimmer „gleich hell“ sind, soll wohl auch ein Hinweis auf klinische Sauberkeit sein, die es verhindert, dass die Kranken dort etwas finden, woran das Auge sich festhalten und von wo aus die Gedanken wegfliegen können.
  2. „Transitraum“ bedeutet dann wohl ein unguter Zwischenort zwischen eigentlichen Orten, etwas Künstliches, das vom wirklichen Leben getrennt ist.
    Sehr schön die Formulierung: „Wo Leerzeit umsonst bei Bewußtsein hält“ – offensichtlich ist das hier wirklich vergeudete Zeit, die man besser verschläft o.ä.
  3. Und dann am Ende der Clou, das angebliche „Sprichwort wahr aus den Bars von Atlantis“, einem übrigens untergegangenen Kontinent.
    „Reisen ist ein Vorgeschmack auf die Hölle.“
  4. Darauf sollte man natürlich noch ein bisschen genauer eingehen: Das Reisen wird hier auf sehr pointierte Weise als Vorgang angesehen, bei dem man den eigentlichen Ort seines Lebens, in dem man eingetaucht ist, mit der ungewissen Aussicht verlässt, woanders in gleicher Weise heimisch werden zu können.
  5. Hier müsste man mal Leute fragen, die das Experiment auf unterschiedliche Weise gewagt haben. Aus der Lebenswelt interkultureller Paare weiß man allerdings, wie schwierig ein wirkliches zweites Eintauchen in eine Kultur ist.
    Auf die entsprechenden Probleme wird zum Beispiel hier hingewiesen:
    https://schnell-durchblicken3.de/index.php/schnell-durchblicken-kurse/lernkurs-facharbeit/316-interkulturelle-partnerschaft-reif
    und hier:
    https://schnell-durchblicken3.de/index.php/schnell-durchblicken-kurse/lernkurs-facharbeit/317-interkulturelle-partnerschaft-sereny

Zusammenfassung

  1. Dem Lyrischen Ich geht es wohl vor allem darum, ein Kosmopoliten-Dasein anzugreifen, das nur müde macht, am Ende nur noch Gleichförmigkeiten oder falsche Ähnlichkeiten erkennt,  vor allem keinen sicheren Ort mehr hat, wo es wirklich „genau“ sein kann.
  2. Verdeutlicht wird es an scheinbaren Paradoxien, etwa am Anfang, wo man, wenn man am weitesten gereist ist, am wenigstens vom Reisen versteht.
  3. Oder das Bild der Narkose, die auf eine vorausgehende Krankheit verweist, die jetzt überwunden wird.
  4. Vor allem wird wohl auch kritisiert, dass die Vielfalt der Kulturen immer mehr eingeebnet wird
  5. und sich ein falsch verstandener Kosmopolitismus nur in einem „Transitraum“ bewegt, der eigentlich nicht verlassen wird.

Vergleich mit Eichendorff, „Rückkehr“

Im Rahmen des Abiturs 2020 war das Gedicht von Grünbein, mit einem der beiden Gedichte von Eichendorff zu vergleichen.

Wir haben es hier behandelt.

Ohne darauf genauer eingehen zu wollen, haben wir den Eindruck, dass beide zum gleichen Ergebnis kommen, dass nämlich die echte Welt zunächst oder überhaupt die ist, in der man aufgewachsen ist.

Eichendorff begründet das nur nicht näher, während Grünbein ausführlich, wenn auch in zum Teil schwierigen Bildern auf die Probleme hinweist, wenn man zwar zwischen verschiedenen Welten pendelt, allerdings ohne wirklich auch dort heimisch zu werden.

Verweis auf ein Buch

An dieser Stelle sei auf ein Buch verwiesen, das auf die Gefahren einer falschen „Vereinheitlichung“ der Welt verweist.

Thomas Bauer, Die Vereindeutigung der Welt: Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt, Reclams Universal-Bibliothek Nr. 19492, Ditzingen 2018

 

 

Rilke, „Spaziergang“ – Beispiel für die Suche nach dem Thema

Suche nach dem Thema und der Aussage

An dem folgenden Gedicht kann man sehr gut üben, wie sich Zeile für Zeile ein immer besseres Verständnis aufbaut.

Dabei wird dann auch klar, was das Thema, also eigentlich die Fragestellung des Gedichtes ist, also das, worüber das Lyrische Ich gewissermaßen gestolpert ist.

Und wo eine Frage ist, wünscht man sich auch eine Antwort, das wäre dann die „Aussage“, auf die das Gedicht zuläuft.

Beispiel: Rilke, „Spaziergang“ – Zeile für Zeile

Rainer Maria Rilke

Spaziergang

Schon ist mein Blick am Hügel, dem besonnten,
dem Wege, den ich kaum begann, voran.
So fasst uns das, was wir nicht fassen konnten,
voller Erscheinung, aus der Ferne an—

  • Das Gedicht beginnt mit einer besonderen Situation, die das Lyrische Ich bei sich feststellt. Es ist offensichtlich auf einer Wanderung und nimmt schon einen sonnenbeschienenen Hügel in den Blick, obwohl der noch recht weit vor ihm liegt.
  • Das Erstaunen des Lyrischen Ichs gehört diesem scheinbaren Missverhältnis, dass der Blick sich schon mehr auf das Ziel konzentriert als auf den Weg dahin.
  • Die beiden letzten Zeilen der Strophe macht dann aus der konkreten Erfahrung etwas Allgemeines:
  • Das Lyrische Ich denkt an Situationen, in denen wir von etwas, was wir „nicht fassen“ können,  erstaunlicherweise angefasst werden. Das Lyrische Ich fühlt sich also hier der Einwirkung des Ziels ausgesetzt, während man normalerweise ja andersherum denkt, man fasst nämlich gewöhnlich das Ziel ins Auge und nicht umgekehrt.
  • Hier muss man noch etwas genauer sein: In den ersten beiden Zeilen geht der Blick ja vom Lyrischen Ich zum Hügel. In der allgemeinen Reflexion wird das dann aber so interpretiert, dass der Hügel das gewissermaßen erst ausgelöst hat.

und wandelt uns, auch wenn wirs nicht erreichen,
in jenes, das wir, kaum es ahnend, sind;
ein Zeichen weht, erwidernd unserm Zeichen . . .
Wir aber spüren nur den Gegenwind.

  • Die zweite Strophe wird dann eng an die erste angeschlossen und erweitert noch das Wirkungspotenzial dessen, was erst mal außerhalb unserer Reichweite liegt.
  • Das Lyrische Ich behauptet doch tatsächlich, dass das, was wir nicht erreichen, sondern nur auf uns wirken lassen können, uns auch noch verwandelt.
  • Und dann wird es noch interessanter: Das Unerreichbare, aber uns Ansprechende verwandelt uns in etwas, was wir angeblich schon sind.
  • Auf den Hügel wollen wir das mal lieber nicht beziehen – der war nur der Ausgangspunkt der Reflexion.
  • Aber es lohnt sich schon, hier kurz zu versuchen, sich eine Situation vorzustellen, in der das gelten könnte, was Rilke das Lyrische Ich sagen lässt.
  • Nehmen wir eine Fußballmannschaft, die kurz vor der Meisterschaft steht. Sie hat sie noch nicht, aber sie wirkt schon auf sie ein. Und wenn es gut läuft, dann gibt die Zielvorstellung dem Team so viel Selbstvertrauen, dass es im Spiel schon Meister ist, weil es meisterlich spielt.
  • Die letzten beiden Zeilen versuchen das Gedanken- und Gefühlsexperiment jetzt in eine Formel zu bringen:
    • Ausgangspunkt ist das eigene Zeichen in Richtung Ziel.
    • Von dort „weht“ ein Zeichen zu uns zurück.
  • Und dann ein neuer Aspekt, nämlich die überraschende These, dass man in der Situation „nur den Gegenwind“ spürt.
  • Wie ist das denn nun zu verstehen?
    • Hier kann man von der Hügelwanderung ausgehen. Da ist das leicht zu verstehen – es gibt bereits einen Austausch zwischen dem Wanderer und seinem Ziel, aber er spürt vor allem erst mal den – möglicherweise beschwerlichen – Anstieg.
    • Wie ist das bei unserem Beispiel einer Fußballmannschaft: Sie muss natürlich auch im besten Falle eines schon meisterlichen Auftritts trotzdem am Ball bleiben, darf sich nicht zu sicher fühlen.
    • Wir stellen also fest, dass man die Überlegungen des Gedichts nachvollziehen kann.

Versuch einer Bestimmung von Thema und Aussage

  • Bleibt die Frage, was denn nun eigentlich das Thema und was die Aussage des Gedichtes ist.
  • Das Thema ist der innere Umgang mit dem Verhältnis von eigener aktueller Position und angestrebtem (höheren) Ziel.
  • Die Aussage ist, wie eben schon angedeutet, dass
    • man als erstes mit dem Ziel (Blick-)Kontakt aufnimmt,
    • dass das Ziel gewissermaßen antwortet
    • und mit einem selbst etwas macht – und zwar in Richtung Zielgefühl,
    • dass aber unabhängig davon im Vordergrund erst mal noch der „Gegenwind“ steht.
  • Und abschließend kann man wirklich nur den Rat geben, das im eigenen Leben mal auszuprobieren. Denn es gibt viele Situationen, in denen man ein Ziel ins Auge fasst – und das macht dann was mit einem – und dennoch bleibt da eine Realität, die einem noch einige Mühe machen oder sogar Hindernisse in den Weg legen kann.
  • Entscheidend ist, dass man in einer solchen Situation sich schon mal im Ziel gefühlt hat, ohne – fügen wir jetzt warnend hinzu – dabei übermütig zu werden.

Weiterführende Hinweise

  • Weitere Beispiele für erfolgreiches Verstehen von Gedichten finden sich hier.
  • Ein alphabetisches Gesamtverzeichnis unserer Infos und Materialien gibt es hier.
  • Eine Übersicht über unsere Videos auf Youtube gibt es hier.

 

Gryphius, „An eine Jungfrau“ – Barockgedicht

Ein Gedicht mit „gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit“?

Im Folgenden geht es um ein Gedicht, das aus der Zeit des Barock stammt (17. Jahrhundert). Wer sich das Gedicht in der Originalfassung anschauen will, kann das zum Beispiel hier tun. Wir präsentieren es in heutiger Schreibweise – fremdartig bleibt es noch genug 😉

Hinweis auf ein Video zu diesem Gedicht

Inzwischen gibt es auch ein Video zu diesem Gedicht, das hier abgerufen werden kann:
https://youtu.be/QG-U4kGkxuM

Die zugehörige Dokumentation ist hier zu finden:

https://www.einfach-gezeigt.de/gryphius-an-eine-jungfrau-video

Wichtig ist, dass in dem Video auch die Sicht auf das Bild der Frau in diesem Gedicht etwas relativiert wird. Dabei wird gezeigt, wie problematisch es ist, wenn man sich zu sehr von Vorkenntnissen leiten lässt, die leicht zu Vor-Urteilen werden 🙁

Hier die entscheidende Seite, die im Video vorgestellt wird. Es geht um:

  • die Gesamtaussage, verbunden mit der Warnung vor schnellen „Vor-Urteilen“
  • die Sonettform, bei der man hier auch eine inhaltliche Funktion nachweisen kann
  • und schließlich die bsd. rhythmische Versform des Alexandriners

Hier noch mal der Link zum Video:

Vorstellung und kritische Erläuterung des Gedichtes

Andreas Gryphius

Überschrift und erste Strophe

An eine Jungfrau

  • Gemeint ist hier eine junge Frau.

01 Was ist Eur zarter Mund? Ein Köcher voller Pfeile,
02 Dadurch manch weiches Herz wird bis in Tod verletzt.
03 Der hellen Augen Glanz ist Flammen gleich geschätzt,
04 An welchem jeder sich verbrennt in kurzer Weile.

  • In typischer Gegensatzform der Barockzeit werden hier Elemente der Schönheit in ein gefährliches Gegenteil verkehrt.
  • Letztlich soll deutlich werden, dass die Schönheit (eben junger Frauen) schlimme Folgen  für Männer hat.
  • Besonders problematisch erscheint das „jeder“ in Zeile 04.
  • Aus heutiger Sicht zeigen sich hier sehr urtümliche Vorurteile, die das, was man früher mal als „weibliche Reize“ bezeichnet hat, als etwas Verführerisches betrachtet.
    Für die sehr vom Christentum und von der Bibel geprägte Barockzeit wird man schnell an die Verführung Adams durch Eva und die anschließende Vertreibung aus dem Paradies erinnert.

Zweite und dritte Strophe

05 Die wunderschönen Haar sind lauter Liebes-Seile.
06 Wer durch der Stirnen Glanz nicht wird in Euch verhetzt,
07 Wer sich den Lilien des Halses widersetzt,
08 Muss doch gewärtig sein, dass ihn der Blitz ereile,

 

09 Der von der bloßen Brust herstrahlt so unverdeckt.
10 So sprecht Ihr, und ist wahr, wer voll von Zunder steckt,
11 In dem kann auch ein Funk leicht großes Feu’r erregen.

  • Die zweite und dritte Strophe sind eng verbunden und enthalten erst mal nichts Neues.
  • Dann wird es aber ab Zeile 10 interessant, weil hier erstmals deutlich wird, dass nicht alles Negative hier von der Frau ausgeht, sondern der Mann eben „voll von Zunder“, also stark brennbarem Material, steckt.
  • Schön wäre gewesen, wenn Gryphius das stärker hervorgehoben hätte.
  • Aus heutiger Sicht bestätigt er sehr stark das Vorurteil, das Frauen sich immer wieder anhören müssen: „Wenn es Probleme mit Männern gibt, dann liegt es auch an der Aufmachung.“
  • Aber aus heutiger Sicht – und das ist das Schöne an der Literatur als Kunst – kann man natürlich das Gedicht an dieser Stelle auch so verstehen, dass Gryphius am Anfang Probleme zwischen den Geschlechtern aufzeigt, dabei zunächst eine scheinbar sehr männerschonende Sichtweise präsentiert, dann aber eben doch auch auf den Zunder hinweist, also die Beteiligung des Mannes an möglichen Verirrungen im Umgang von Mann und Frau miteinander.

Vierte Strophe

12 Wer aber bei sich selbst, dies was Ihr so hoch acht’,
13 Die schöne Nichtigkeit, und was Ihr seid betracht’,
14 Den sollt Ihr, glaubt mir’s fest, zu keiner Brunst bewegen.

  • Bei der letzten Strophe kommt es nun drauf an.
  • Man muss hier die Überschrift wieder einbeziehen, um das „Ihr“ in Zeile 12 richtig zu verstehen.
  • Hier wird etwas abfällig der Frau unterstellt, dass sie ihre Schönheit „so hoch“ achtet – und dann wird – noch schlimmer – „schöne Nichtigkeit“ schon in einen sehr problematischen engen Zusammenhang mit „Ihr seid“ gebracht.
  • Vor dem Hintergrund bricht leider jede positive Sicht auf dieses Gedicht zusammen, weil ja die Gefahr für die Männer dadurch vermindert werden soll, dass sie sich die Frau gewissermaßen unschön (und leider auch darüber hinaus) vorstellen sollen.

Zusammenfassung – kritische Würdigung

Insgesamt also ein Gedicht, das ganz eindeutig aus einer Zeit stammt, in der man Frauen für gefährlich hielt in ihrer Wirkung auf Männer, und glaubte, sie nur dadurch davor bewahren zu können, dass man sie sich schlechter vorstellte bis hin zur Vorstellung, es handele sich bei ihnen nur um eine „schöne Nichtigkeit“.

Das mag als Therapie funktionieren, enthält aber wohl auch ein Stück „gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit“, so würde man es heute wohl nennen.

Vor allem aber entspricht es in keiner Weise einem aufgeklären und zivilisierten Umgang von Männern und Frauen, wie er sich glücklicherweise in Europa herausgebildet hat – zumindest als Möglichkeit.

Dass Frauen zu Recht noch mehr verlangen als nur einen zivilisierten Umgang mit ihrer Schönheit, ist dann noch ein anderes Thema.

Wer noch mehr möchte

Brinkmann, Rolf Dieter, „Selbstbildnis im Supermarkt“

Vorstellung des Gedichtes

  • Das Gedicht besteht aus 7 Versgruppen zwischen einer Zeile und drei Zeilen.
  • Die ersten beiden Gruppen bilden eine Einheit: In ihr wird kurz eine Situation beschrieben, bei der das Lyrische Ich auf eine Schaufensterscheibe zugeht und dabei das Gefühl hat, sich selbst entgegenzukommen.
  • Interessant ist der Nachsatz: „wie ich bin“. Das macht deutlich, dass sein Selbstbild möglicherweise nicht dem entspricht, was er zu sehen bekommt. Übrigens eine ganz natürliche Situation, die jeder vorm Spiegel kennt, spätestens dann, wenn er mit seinem Aussehen vorm Ausgehen noch nicht zufrieden ist oder feststellt, dass er zum Friseur müsste.
  • Das Besondere ist nun die dritte Versgruppe, denn da ist von einem „Schlag“ die Rede. Es geht wohl etwas „Schlagartiges“, das einem in solch einer Situation deutlich werden kann. Auf jeden Fall „trifft“ hier ein „Schlag“, es ist „nicht der erwartete Schlag“, wohl aber einer, der trotzdem trifft. Das bleibt hier sehr dunkel, wir meinen auch: unnötig dunkel. Vielleicht soll jeder Leser des Gedichtes selbst überlegen, was ihn in einer solchen Situation – wohl schmerzlich – treffen könnte.
  • Das „trotzdem“ in der nächsten (abgetrennten) Zeile macht deutlich, dass sich hier Vorstellungen stark gegenüberstehen.
  • Das Lyrische Ich verarbeitet aber nichts, sondern geht einfach weiter.
  • Das ist wohl auch der Punkt, der letztlich in der nächsten Versgruppe dazu führt, dass das Lyrische Ich „vor einer kahlen / Wand“ steht und „nicht mehr weiter-/weiß.“
    Ganz offensichtlich ist es in eine Sackgasse geraten. Alles spricht dafür, dass das damit zusammenhängt, dass es nicht rechtzeitig auf die (vermutlich gegebene) Diskrepanz (großer, gefährlicher Unterschied) zwischen dem Selbstbild und dem Spiegelbild geachtet hat.
  • So bleibt als Ausblick nur, dass das Lyrische Ich „später dann“ von jemandem abgeholt wird. Es ist eine ausweglose Situation, aus der es sich anscheinend nicht befreien kann oder will.
  • Interessant ist der lakonisch kurze Schlusspunkt: „ab“ – mehr kann man zu diesem Menschen und seiner Situation nicht mehr sagen.

Aussage(n) des Gedichtes

Das Gedicht zeigt:

  1. einen Menschen, der angesichts einer Schaufensterscheibe mit einer anderen Sicht auf sich selbst konfrontiert wird, die ihn – ohne dass das näher ausgeführt wird – wie ein Schlag trifft.
  2. dass dieser Mensch das aber nicht verarbeitet und einfach weitergeht
  3. und so schließlich in einer ausweglosen Situation vor einer Wand landet
  4. und am Ende hilflos da steht und nur noch auf fremde Hilfe warten kann.

Künstlerischer Mittel

Die Wirkung des Gedichtes ergibt sich vor allem durch

  1. seinen darstellerischen Minimalismus. Alles wird sehr konzentriert und an wesentlichen Stellen auch offen.
  2. Wichtig sind die Strophensprünge, die das Vorwärts- und Weitergehen des Lyrischen Ichs deutlich machen, wobei es eben zu Zusammenstößen an den Strophenenden kommt.
  3. Am wirkungsvollsten ist der letzte Übergang und das maximal verkürzte „ab“, das die Ausweglosigkeit eines Niedergangs deutlich macht.

Kreative Anregungen

Ausgehend von diesem Gedicht kann man wunderschöne eigene Texte schreiben, in denen einem das Schicksal gewissermaßen eine letzte Warnung gibt. Es kann aber auch sein, dass  sich alles gut auflöst – wie in dem folgenden Gedicht:

Lars Krüsand

Erleichterung

Da geht man
einkaufen,
denkt
an nichts Böses.
Und dann zeigt einem
das große Schaufenster
das eigene Spiegelbild:
einen Menschen
schmerzlich gebeugt
mit krummem Rücken.
Das trifft hammerhart
Man ahnt
eine Zukunft
mit Rollator
im Seniorenstift.
Erleichtert
blickt man
auf den Griff
des Einkaufswagens
und ist froh,
dass es nur ein
Hexenschuss ist.

Weiterführende Hinweise:

Das Gedicht erinnert von seiner Ausweglosigkeit her an Kafkas Kurzparabel  „Kleine Fabel“:
https://de.wikipedia.org/wiki/Kleine_Fabel#Der_vollst%C3%A4ndige_Text

Ansonsten kann man das Gedicht gut vergleichen  mit Annette von Droste-Hülshoff, „Das Spiegelbild“:
https://wvm.schnell-durchblicken3.de/droste-huelshoff-das-spiegelbild/

  • Ein alphabetisches Gesamtverzeichnis unserer Infos und Materialien gibt es hier.
  • Eine Übersicht über unsere Videos auf Youtube gibt es hier.

Droste-Hülshoff, Annette, „Das Spiegelbild“

Unser Verfahren der „sicheren“ Interpretation

Im Folgenden verwenden wir wieder eine Kombination aus induktivem und hermeneutischem Verfahren.
Induktiv                = Zeile für Zeile Verständnis aufbauend
Hermeneutisch = immer wieder wird der aktuelle Verständnisstand korrigiert, nachjustiert.

Unsere Arbeit am Gedicht – was man sich so notiert

Wir haben unsere handschriftliche Bearbeitung hier eingefügt, weil man dort gut sehen kann, wie Teile des Gedichtes, die weit auseinanderstehen, trotzdem zusammengehören.

  • Zum Beispiel das, was zu den Augen gesagt wird: 02/18
  • Oder die zweifache Verwendung des „dennoch“ (11/36)
  • Oder „Herrscherthron“, „Knechte“ und „schüchtern“ (15/17)
  • Was wir später geändert haben, ist der angebliche Konditionalsatz in der ersten Strophe – später hat sich herausgestellt, dass man das besser temporal versteht.
  • Und was die Rhythmus-Störung angeht, so müsste bei „Gnade“ eigentlich die erste Silbe betont werden, für den Jambus muss es aber die 2. sein. Das glättet sich aber in der Regel im Vortrag.
  • Auf jeden Fall können wir nur jeden ermutigen, das induktive und das hermeneutische Verfahren auch so handschriftlich sichtbar zu machen, bevor man mit der Niederschrift der Interpretation beginnt.

Verständnisaufbau – Zeile für Zeile mit Zwischenergebnissen

Annette von Droste-Hülshoff

Das Spiegelbild

Strophe 1: erster Eindruck bei der Begegnung

01 Schaust du mich an aus dem Kristall,
02 Mit deiner Augen Nebelball,
03 Kometen gleich die im Verbleichen;
04 Mit Zügen, worin wunderlich
05 Zwei Seelen wie Spione sich
06 Umschleichen, ja, dann flüstre ich:
07 Phantom, du bist nicht meinesgleichen!

    • Vierhebiger Jambus, der nur in Zeile 34 vorne etwas gestört ist.
    • Ausgangspunkt: Anrede an das eigene Spiegelbild im Stil eines Temporalsatzes: „Dann, wenn …“
    • Vergleich der Augen mit einem „Nebelball“, also unklar, was zur Folgezeile passt: Kometen ziehen schnell vorbei – auch „Verbleichen“ passt dazu.
    • Dann geht es um die Gesichtszüge, in denen das Lyrische Ich „Zwei Seelen“ zu sehen meint, die sich wie „Spione“ „Umschleichen“.
    • Die letzten beiden Zeilen präsentieren das Ergebnis dieser Situation, die Feststellung des Unterschiedes, der Nicht-Gleichheit.
    • Insgesamt 1. Verständnis-Stand: Das Spiegel-Gegenüber wird als zweite Person wahrgenommen, das sich unklar und beunruhigend präsentiert. Am Ende eine Abwehrhaltung.

2. Strophe: Veränderung hin zu halber Aneignung

08 Bist nur entschlüpft der Träume Hut,
09 Zu eisen mir das warme Blut,
10 Die dunkle Locke mir zu blassen;
11 Und dennoch, dämmerndes Gesicht,
12 Drin seltsam spielt ein Doppellicht,
13 Trätest du vor, ich weiß es nicht,
14 Würd‘ ich dich lieben oder hassen?

    • Das Lyrische Ich verstärkt die distanzierende Abwehr, indem es das Spiegelbild zu einer Art Traum macht.
    • Es unterstellt ihm eine negative Wirkung („eisen“ und „blassen“).
    • Dann der „dennoch“-Wechsel: Jetzt erkennt das Lyrische Ich ein ein „dämmerndes“ (Morgendämmerung?) Gesicht und sieht ein „Doppellicht“.
    • Es folgt ein Konditionalsatz: Wenn dieses scheinbare Phantom auf das Lyrische Ich zugehen würde, weiß es nicht, ob es „lieben oder hassen“ sollte.
    • Insgesamt 2. Verständnis-Stand:
      Das Lyrische Ich schwankt zwischen Abwehr und halber Bereitschaft zur Anerkennung / Aneignung.

3. Strophe: erneute Distanzierung angesichts der kalten Augen

15 Zu deiner Stirne Herrscherthron,
16 Wo die Gedanken leisten Fron
17 Wie Knechte, würd‘ ich schüchtern blicken;
18 Doch von des Auges kaltem Glast,
19 Voll toten Lichts, gebrochen fast,
20 Gespenstig, würd‘, ein scheuer Gast,
21 Weit, weit ich meinen Schemel rücken.

    • Das Lyrische Ich schaut sich jetzt das Gesicht im Spiegel genauer an.
    • Es beginnt mit der Stirn als dem Ort des Verstandes – interessant die negative Sicht der „Fron“-Arbeit bei den Gedanken.
    • Demgegenüber ist seine Haltung „schüchtern“.
    • Probleme hat es mit dem kalten Glanz der Augen, wo es nur totes Licht sieht. Das ist wieder eine Rückkehr zur Sicht der 1. Strophe.
    • Am Ende steht erneute Distanzierung aus Angst heraus.
    • Insgesamt 3. Verständnis-Stand:
      Die Eindrücke und das Verhältnis wechseln ständig, hier wieder Ablehnung, vor allem wegen der Augen. Demgegenüber tritt die Verstandeswelt der Stirn zurück.

4. Strophe: Erneuter Wechsel vom Positiven zum Negativen

22 Und was den Mund umspielt so lind,
23 So weich und hülflos wie ein Kind,
24 Das möcht‘ in treue Hut ich bergen;
25 Und wieder, wenn er höhnend spielt,
26 Wie von gespanntem Bogen zielt,
27 Wenn leis‘ es durch die Züge wühlt,
28 Dann möcht‘ ich fliehen wie vor Schergen.

    • Als nächstes geht es um die Mundpartie, die erst mal positiv wahrgenommen wird, sogar als hilfebedürftig.
    • Auch hier wieder ein Wechsel ins Höhnische, Aggressive mit entsprechender Reaktion des Lyrischen Ichs.
    • Insgesamt 4. Verständnis-Stand:
      Neu ist der Eindruck der Hilflosigkeit beim Gegenüber, der aber auch wieder ins Gegenteil verkehrt wird. Eindruck ständigen Wechsels.

5. Strophe: Eine Art Vergöttlichung des eigenen Spiegelbildes

29 Es ist gewiss, du bist nicht ich,
30 Ein fremdes Dasein, dem ich mich
31 Wie Moses nahe, unbeschuhet,
32 Voll Kräfte die mir nicht bewusst,
33 Voll fremden Leides, fremder Lust;
34 Gnade mir Gott, wenn in der Brust
35 Mir schlummernd deine Seele ruhet!

    • Versuch der Selbstvergewisserung der Nicht-Identität
    • Rückgriff auf eine Stelle aus der Bibel, wo der Prophet Moses sich dem Heiligen ohne Schuhe nähern soll (2. Mose 3, 4-5).
    • Das Gegenüber wird hier immer größer, heiliger, fast göttlich.
    • Das Lyrische Ich erkennt dort fremde Erlebnisse positiver und negativer Art, die es nicht in sich selbst entdecken möchte.
    • Insgesamt 5. Verständnis-Stand:
      Zum ständigen Wechsel kommt jetzt eine Art heilige Scheu vor dem eigenen Spiegelbild, in dem das Lyrische Ich vieles ahnt, wovor es Angst hat.

6. Strophe: Wendung ins Positive: Bereitschaft zur Begegnung mit Weinen

36 Und dennoch fühl‘ ich, wie verwandt,
37 Zu deinen Schauern mich gebannt,
38 Und Liebe muss der Furcht sich einen.
39 Ja, trätest aus Kristalles Rund,
40 Phantom, du lebend auf den Grund,
41 Nur leise zittern würd‘ ich, und
42 Mich dünkt – ich würde um dich weinen!

    • Ein erneutes „dennoch“: Das Lyrische Ich erkennt ein Gefühl der Verwandtschaft an – gerade in den „Schauern“, die es eben erahnt hat.
    • Es möchte die „Furcht“ mit der „Liebe“ verbinden.
    • Am Ende ist es sogar zu einer Begegnung mit dem Spiegel-Gegenüber bereit. Dabei wird eine doppelte Reaktion angenommen: Zittern und ein „um dich weinen“. Was dafür der Grund ist, bleibt offen und lässt sich wohl nur auf der Sinn-Ebene erschließen.

Bestimmung der Aussagen des Gedichtes (Intentionalität)

Das Gedicht zeigt:

  1. sehr vielschichtige Eindrücke und Reaktionen bei der Betrachtung des eigenen Spiegelbildes.
  2. Es beginnt mit Unklarheit und Irritation, was zur Ablehnung eines Doppelbildes.
  3. Versuch der Verdrängung in die Traumwelt, was eher in Richtung Albtraum geht.
  4. Dann aber auch erstmals Unklarheit, ob das Lyrische Ich „lieben oder hassen“ muss/kann.
  5. Genauere Betrachtung von der Stirn, über die Augen bis hin zum Mund produziert wieder sehr unterschiedliche Eindrücke, die insgesamt eher negativ sind und beim positiven Ansatz einer gewissen kindlichen Hilflosigkeit gleich wieder ins Negative gewendet werden.
  6. Ab der 5. Strophe wechselt die Sicht auf das Spiegelbild vom Gespenstischen zum Geheimnisvoll-Göttlichen, vor dem man nicht nur negativ erschauert.
  7. Dementsprechend steht am Ende die Bereitschaft, dieses Phantom mit seinen Perspektiven in eine andere Welt der Möglichkeiten anzunehmen, wenn auch zitternd und mit der Bereitschaft zu weinen.
  8. Dieses „weinen“ lässt sich aus dem Gedicht selbst heraus nicht sicher verstehen. Wir verstehen das so, dass das Lyrische Ich über das Spiegelbild auf ganz neue Sichtweisen auf sich selbst und das Leben gekommen ist. Die sind durchaus beunruhigend, werden aber als zum Menschen bzw. zum Leben gehörend angenommen. Und diese tiefen Blicke in eine größere Wirklichkeit können nur mit „zittern“ und „weinen“ ertragen werden. Darunter ist aber keine Trauer zu verstehen, sondern eine tiefe gefühlsmäßige Reaktion. Schließlich kann auch jemand weinen, der gerade tief bewegt ist.

Künstlerische Mittel

Wie immer zählen wir hier nicht einfach auf, was sich alles so finden lässt, sondern versuchen die „strategischen“ Mittel zu finden, die die Wirkung des Gedichtes ausmacht. Da lässt sich folgendes feststellen:

  1. Die direkte Anrede spielt eine Rolle – die wird bis zum Ende durchgezogen. Interessant ist der Verzicht darauf in der 4. Strophe: Das entspricht dem Fluchtgedanken in Zeile 28.
  2. Dann spielt der Konjunktiv eine Rolle (13, 17, 20, 39), was deutlich macht, wie sehr es sich um Kopfgeburten des Lyrischen Ichs handelt.
  3. Bilder des Unklaren („Nebelball“, 2, „Verbleichen“, 03) spielen eine Rolle; außerdem solche der negativen Einwirkung (09, 10) mit der Konnotation des Alterns oder gar des Todes. Dazu auch „dämmerndes Gesicht“, (11). Vergleiche „des Auges kaltem Glast“, „Voll toten Lichts“ (18,19).
  4. Eine wichtige Rolle spielt in diesem Zusammenhang auch das Neben- und Gegeneinander: „zwei Seelen“ (05), „Doppellicht“ (12), „lieber oder hassen“ (14), „Liebe“ und „Furcht“, (38), „Voll fremden Leides, fremder Lust“, (33)
  5. Dann die Anspielung auf die Moses-Geschichte und die damit verbundene Vorstellung vom Heiligen (31), verbunden mit „Schauern“ (37) und „zittern“ (41). Dazu passt auch „Gnade mir Gott“, (34).

Weiterführende Hinweise

Kaléko, Mascha, „Mit auf die Reise“

Worum es uns hier geht …

Im Folgen wollen wir kurz zeigen, wie man den Inhalt des Gedichtes von Mascha Kaléko sich so klarmachen kann, dass man die zentralen Aussagen versteht und sich auch so etwas wie Sinn ergibt.

Da die Verfasserin noch nicht 70 Jahre tot ist, unterliegt der Text dem Urheberrecht. Aber wir gehen davon aus, dass er zur Verfügung steht.

Erläuterung der 1. Strophe

  • Das Gedicht beginnt mit der Feststellung des Lyrischen Ichs, was es alles – wohl dem oder der Geliebten nicht mit „auf die Reise“ (so der Titel) geben kann.
  • Dabei handelt es sich zunächst um eins der größten Geschenke, die man jemandem für eine Reise machen kann.
  • Es folgen wertvolle Steine und ein kostbarer Mantel o.ä.
  • Statt all dem scheint es nur etwas was Geringes abzugeben haben, nämlich ein „Schlüsselchen von Erz“ – allerdings Vorsicht. Schlüssel verschaffen ja immer den Zugang zu etwas anderem, möglicherweise noch Wertvollerem.
  • Ein schönes künstlerisches Mittel ist dann die Beiläufigkeit, mit der „mein ziemlich gut erhaltnes Herz“ nachgeschoben wird. Was will man als Liebender mehr?!
  • Die letzte Zeile macht dann aber deutlich, dass es wohl auch ein Gegenstand in Herzform ist, der eben für Erinnerung sorgen soll. Aber das stellt die Kostbarkeit nicht in Frage, betont allenfalls den Charakter der Bitte – als ob das Gegenüber nicht von sich aus dran denken würde.

Erläuterung der 2. Strophe

  • Die zweite Strophe bezieht sich dann auf Fähigkeiten, die man früher eher einer braven Ehefrau zugeordnet hat.
  • Von daher erscheint es eher sympathisch, dass das nicht im Angebot ist,
  • Dafür aber etwas viel Wertvolleres. Zauberteppich ging ja erst nicht, dafür gibt es jetzt den Zugang zu einem „Märchenland“, dessen Aussehen offen bleibt. Möglicherweise will das Lyrische Ich gar nicht über ein anderes Land nachdenken, in dem das geliebte Gegenüber verschwindet. Aber es möchte zumindest, dass an „grauen Tagen“ doch etwas Schönes im Angebot ist.

Erläuterung der 3. Strophe

  • Auch die letzte Strophe setzt die Liste der scheinbaren Defizite fort, diesmal geht es um ein Elementz der Märchenwelt, das dafür sorgt, dass alle Wünsche erfüllt werden.
  • Auch den märchenhaften Zugang zu einer Schatzkammer gibt es nicht.
  • Auch ein Schmuckstein, der angeblich inneren Frieden schenkt (https://www.edelsteine.net/amethyst/) ist nicht im Angebot.
  • Doch dann das großartige Finale: Zunächst eine wunderbare Erkläruing, was das geliebte Gegenüber für das Lyrische Ich bedeutet: Wenn dessen Herz ihm „Flut und Ebbe“ ist, dann bedeutet das die Vollkommenheit der Gezeiten und damit der Wechselfälle des Lebens. Man wird erinnert an die Hochzeitsformel „in guten und in schlechten Tagen“. Mehr geht nicht an Versprechen.
  • Und dementsprechend wird am Ende ein Muschel mitgegeben, die so schimmert wie die Tränen des Lyrischen Ichs, das sein geliebtes Gegenüber vermisst.
  • Und das Ziel ist mehr als nur „Anmichdenken“, es geht um Sehnsucht – und das ist wohl deutlich mehr in der Liebe.

Gesamteinschätzung des Gedichtes

  • Insgesamt ein sehr originelles Liebesgedicht für eine ganz besondere Situation.
  • Deutlich wird, wie das Lyrische Ich eigentlich alles mitgeben möchte, was das geliebte Gegenüber benötigt, was ihm gut tut.
  • Es konzentriert sich aber auf das, was ihm entspricht und sehr originell wirkt.
  • Am wichtigsten ist ihm, dass seine Liebe deutlich wird und in gleicher Weise erwidert wird.
  • Man könnte es gut vergleichen mit „Ich habe dich so lieb“ von Joachim Ringelnatz.

Weiterführende Hinweise

 

 

Kirsch, Sarah, „Bei den weißen Stiefmütterchen“

Wie baut sich im Gedicht Verständnis auf?

Gleich am Anfang wird deutlich, dass der Titel einen Treffpunkt in einem Park meint. Das Gedicht beginnt mit einer lapidaren Ortsbestimmung und dem Hinweis, dass ein „er“ dem lyrischen Ich aufgetragen hat, dort hinzukommen, und jetzt erwartet wird.

Die Anzeichen der Enttäuschung

Der Rest der ersten Strophe wird dann immer negativer: Zunächst wird deutlich, dass das Lyrische Ich alleine dort steht, dann wird geschildert, wie der Baum an dem Treffpunkt aussieht: drei Merkmale, die alle nichts Schönes bedeuten: „ungekämmt“, „alt“ und „blattlos“. Das kann als Vorausdeutung auf die Beziehungssituation verstanden werden.

Am Ende zieht dann die Weide daraus die Konsequenz, indem sie das ausdrückt, was das Lyrische Ich denkt: „Siehst du sagt sie er kommt nicht.“

Der Versuch der Verharmlosung

Die zweite Strophe besteht dann aus vier Entschuldigungen, die sich das Lyrische Ich einfallen lässt, um der schlimmstmöglichen Erklärung für sein Nicht-Erscheinen auszuweichen.

Die Art und Weise der Formulierung lässt schon etwas den selbstkritischen Humor durchscheinen, der dieses Gedicht auszeichnet. Interessant auch, dass hier von „uns Menschen“ die Rede ist – wieder ein Beleg für Humor, wenn man sich selbst einbezieht und Verständnis zeigt.

Die schlimmstmögliche Erklärung

  • Die Weide reagiert darauf mit der schlimmstmöglichen Erklärung: „Kann auch sein er ist schon tot“. Das wird dann noch näher ausgeführt (anscheinend war das schon früher ein Treffpunkt): „Sah blaß aus als er dich untern Mantel küßte“.

Echte Liebe, wenn auch vielleicht nur noch einseitig

  • Darauf reagiert das Lyrische Ich zunächst sehr gelassen: „Kann sein Weide kann sein“, bevor dann zum grandiosen Finale ausgeholt wird. Es klingt zwar wie ein locker dahingesagter Scherz: „So wollen wir hoffen er liebt mich nicht mehr.“ Aber es steckt doch ein großes Zeichen von Menschlichkeit und Mitgefühl drin – selbst mit einem, der einen hier versetzt hat. Statt jetzt zu schimpfen oder dem anderen die Pest an den Hals zu wünschen möchte dieses Lyrische Ich, dass dem wohl immer noch Geliebten nichts Böses passiert ist – eher ist es bereit, zu akzeptieren, dass die Liebe von seiner Seite aus zu Ende ist.